Eine Rezension von Alice Scemama


Stunde der Fälscher

Richard Dübell: Der Jahrtausendkaiser

Roman von der verlorenen Zeit.

Nymphenburger, München 1998, 575 S.

Der Titel legt es nahe, aber glücklicherweise ist es k e i n Ideenroman (in dem der Autor meist gegen seine Idee verliert), sondern ein vielschichtiges, lebendiges Bild einer Zeit der großen Umbrüche. Es gibt tatsächlich seit langem die Vermutung, daß die katholische Kirche nicht nur schlechthin Geschichtsfälschung betrieben hat, sondern gleich mehrere Jahrhunderte gewissermaßen „verschwinden“ ließ, um ihre Machtansprüche zu untermauern. Seit Karl dem Großen war die Kirche bestrebt, ihre oberste Stellung auf Erden noch über dem Kaiser zu behaupten, nun aber rückt die erste Jahrtausendwende in greifbare Nähe. Es ist eine günstige Zeit für allerlei apokalyptische Visionen und Heilsbringer. Wer wird den Verlauf der kommenden tausend Jahre bestimmen, Kaiser oder Kirche? Zwei Machtblöcke prallen aufeinander, aber auch zwei Weltsichten - die christliche mit ihrer Forderung nach „bedingungsloser Hingabe und einem Glauben, der nicht nachfragt“, und die kaiserlich-weltliche mit den Ideen von „Aufklärung, Forschung, Skeptizismus“.

In diese auch heute noch brisante politische Auseinandersetzung bettet Richard Dübell seine spannende Geschichte um den jungen Philipp, der als Waise und Klosterzögling von einem reichen Herrn freigekauft wurde und nun als dessen Truchseß fungiert. Trotz seiner Jugend ist Philipp ein nachdenkliches Wesen eigen, aber auch die Fähigkeit, die Aufgaben bei der Versorgung eines großen Haushaltes zu bewältigen. Für einen etwas sonderbaren Dienst wird Philipp zu Radolf Vacillarius gesandt, einem verarmten Adligen, um durch das Fälschen von Dokumenten angeblich die Mitgift von dessen verstorbener Gemahlin zu sichern. Geschickt baut der Autor mehrere Handlungsstränge auf, deren Zusammenhang sich erst im weiteren Verlauf erschließt und schließlich in ein einziges gigantisches Fälschungs-Komplott mündet, dessen Spuren Philipp eher versehentlich entdeckt. Ungewollt bringt er den Tod in seinem Gefolge, denn erst am Ende des Romans wird Philipp in der Lage sein, die Ränke zu durchschauen, für die er Handlanger sein sollte. Niemand kann den Krakenarmen der Kirche entkommen, die ebenso weit in das persönliche Leben des einzelnen wie in die Weltpolitik reichen.

Ein tiefgehendes Verstehen des Mittelalters, aber auch der menschlichen Psyche beweist der Autor beim Aufbau der Handlung wie bei der Anlage seiner Figuren. Sie wirken alle durch und durch glaubwürdig. Philipp wird als kluger junger Mann geschildert, der Ungereimtheiten zu erkennen und mutig zu benennen vermag, gleichwohl aber auch unsicher und verletzlich ist. Aude Cantat, die Frau des verschwundenen Sängers Minstrel, begleitet ihn über weite Strecken der Handlung auf der Suche nach ihrem Mann. Ihr wird die Rolle der Älteren, Erfahreneren zuteil, die wiederum in bestimmten Situationen der Hilfe Philipps bedarf. Zwischen beiden entspinnt sich eine vorsichtige, tastende Liebesbeziehung, deren Ende offen bleibt. Noch bis in die kleinste Nebenfigur hat Dübell seine Personen liebevoll gestaltet, wobei er über ein großes Repertoire menschlicher Charaktere verfügt. Die von ihm gewählte Epoche des Übergangs vom 10. zum 11. Jahrhundert ist so genau beschrieben, als wäre er dabeigewesen, auch wenn er das Gebet des Pfarrers Jakob von Oetingen aus dem 17. Jahrhundert seiner Mit-Heldin Aude Cantat in den Mund legt: „Ihr müßt die Gelassenheit finden, das anzunehmen, was Ihr nicht ändern könnt, und die Stärke, Euch gegen das aufzulehnen, was zu ändern ist. Und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Es ist ebenso schwer für Philipp und Aude, ihre eigene Manipulierung zu durchschauen wie die Instrumentalisierung bestimmter religiöser Strömungen zur Stimmungsmache im Volk, angeheizt von genau jenen Mächten, die diese Erscheinungen dann unerbittlich bekämpfen. Auch die Rolle der Juden im machtpolitischen Kalkül von Kaiser wie Papst wird ihnen und dem Leser schließlich verständlich.

Dieser Roman ist nicht nur Alltagsgeschichtsschreibung und Krimi, philosophische Abhandlung und machtpolitisches Enthüllungsbuch in einem, er ist auch erzählerisch überaus gelungen, und wem sich Parallelen zur Gegenwart aufdrängen, der hat darüber hinaus noch Stoff zum Nachdenken.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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