Eine Rezension von Helmut Hirsch
Von der Wiederkehr des Verschwundenen
Seamus Deane: Im Dunkeln lesen
Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni Bandini und Ditte König.
Carl Hanser, München 1997, 259 S.
Irland ist zwar eine große Insel, aber ein kleines Land. In der Literatur der europäischen Länder hat es in den letzten Jahrhunderten immer eine führende Rolle gespielt. Von Swift über Shaw, Sean OCasey bis zu Joyce ein Reichtum sondergleichen. 1996 überraschte Frank McCourt mit seinem Romanerstling Die Asche meiner Mutter, ein Buch voller Leiden und Freuden zugleich. Ein Buch über die Kindheit, über die fortwirkende Kraft elementarer Erlebnisse, frisch, magisch und sinnlich genau erzählt. Die Geschichte einer Kindheit in Nordirland erzählt auch der 1940 in Derry (nur Engländer sagen Londonderry) geborene Seamus Deane. Der zur Zeit englische Literatur lehrende Deane (Harvard) veröffentlichte bereits einige Gedichtbände und literaturwissenschaftliche Bücher. Auch gilt er als einer der wichtigsten englischsprachigen Literaturkritiker. Sein erster Roman Im Dunkeln lesen erzählt die Poesie der Kindheitsjahre, kontrastiert von der leidvollen Geschichte, von der Gewalt auf einer beherrschten Insel. Von Nordirland ist die Rede. Seamus Deane entstammt einer katholisch-republikanischen Arbeiterfamilie. Er kennt also die Zerreißproben, die bis tief in die Familien hineinreichen. Und dennoch beginnt dieses Buch fast märchenhaft entrückt. Den Kindern wird erzählt, daß Leute mit grünen Augen den Feen nahestanden, und wenn ihnen jemand mit grünen Augen begegnen sollte, sollten sie sich bekreuzigen. Spuk geht um. Auch im Haus des Jungen, der hier erzählt. Im Treppenhaus, es ist im Februar 1945, warnt ihn die Mutter, nicht am Fenster vorbeizugehen. Ein Schatten sei da: Jemand Unglückliches. Das ist schon genauer. Der Geist eines Menschen, der kommt, wieder geht. Bald hört er mehr vom Verschwinden des Onkels Eddie, den er nie gesehen, nie gehört hat. Aber die Zeichen, die ihm die Mutter gibt, lassen ein beunruhigendes Bild Eddies entstehen. Obwohl niemand von ihm richtig erzählt, so als läge ein lastender Bann über allem. Doch deutbare, bedeutungsvolle Splitter der Erinnerung werden sichtbar. Der Onkel soll Denunziant gewesen sein, floh ins Ausland, vielleicht nach Amerika. In Verbindung mit der IRA hat er gestanden. Geschah ein Mord? Unheil schwebt über dem Verschwundenen, das sich in den Köpfen und Herzen der Verwandten eingenistet hat. Viel wissen sie nicht über Eddie, doch das genügt schon für anhaltende Beunruhigung, für Geistererscheinungen, je nach Empfindung und Phantasie.
Mehrfach gebrochene Wirklichkeiten. Daß der Zweite Weltkrieg noch seine Schrecken ausbreitet, tritt in den Hintergrund. In Nordirland werden die Engländer gefürchtet, doch die treten im Roman nicht direkt in Erscheinung. Und alles, was erzählt wird, ercheint noch einmal verwandelt, indem es dem Gegenwärtigen auf rätselhafte Weise anhängt. Gelitten wird nicht allein, weil die englische Besatzung im Land ist, man leidet auch unter den von der Kirche auferlegten Zwängen. Und in diesem Geflecht lebt der Junge, der vieles sieht, manches ahnt, allmählich, mit dem Größerwerden, auch mehr und mehr zu begreifen beginnt.
Erzählt wird chronologisch vom Februar 1945 bis Juli 1971. Die Wirklichkeit ist mit Feen und Undurchdringlichkeiten besetzt, die Phantasie, die der Junge erlebt, bekommt dadurch einen eigentümlich leuchtenden Glanz. Das Schweigen der Mutter muß er deuten, aus den plötzlich abbrechenden Sätzen des Vaters muß er sich einen Reim machen. Eine Familiengeschichte voller Andeutungen und Umschreibungen entsteht so in vielen Kapiteln. Der Text ist, obwohl Politik immer wieder hineinspielt in die Schicksale, voller Poesie. Denn Politik, wie sie zwischen Nordiren und Engländern, dazu noch zwischen Katholiken und Protestanten wirkte, dringt in alle Lebensbereiche ein. Auf der Straße wird ein Spielkamerad von einem Laster überfahren, die fünfjährige Schwester Una stirbt an Meningitis: Das war ein Wort, an dem man herumbeißen mußte, um es zu sagen. Es hatte etwas Schreckliches und Zischendes an sich. Die Namen der anderen bekannten Krankheiten, Diphtherie, Scharlach oder Influenza, sagt der Junge, mochte ich sehr; ich mußte dabei an italienische Fußballspieler oder Rennfahrer oder Opernsänger denken.
Aber es gibt auch für ihn ganz bedrohliche Situationen. Der Junge zeigt anderen die im Haus versteckte Pistole, wird verraten, erlebt die polizeiliche Hausdurchsuchung, wird, zusammen mit dem Vater, der Folter ausgesetzt. Dann ist von der ersten Kindheitslektüre die Rede. Der erste Roman hatte einen grünen Pappeinband und war zweihundertsechzehn Seiten lang. Auch hatte die Mutter ihren Mädchennamen auf das Vorsatzblatt geschrieben. Die Buchstaben, inzwischen verblaßt, wirkten fremd auf mich, als stellten sie jemanden dar, der sie gewesen war, bevor sie die Mutter wurde, die ich kannte, jemanden, der möglicherweise nicht einmal derselbe Mensch war.
Der erste Roman wird im Bett und bei schlechtem Licht gelesen. Und sehr schön schildert Deane, wie der Leser und das Buch zusammenkommen: Ich las den Anfang immer und immer wieder von vorn. Draußen war das schlechte Wetter; drinnen war das Feuer, lauernde Gefahr, ein Liebespaar. Diese Mischung hatte etwas Köstliches ... Lesen wirkt nach, auch bei diesem phantasiesüchtigen Jungen: Dann machte ich das Licht aus, stieg wieder ins Bett und lag, das Buch noch immer aufgeschlagen, so da und malte mir noch einmal alles aus, was ich gelesen hatte, wie sich die ganze Sache im einzelnen weiterentwickeln konnte, und der Roman entfaltete sich im Dunkeln und ließ Raum für unendliche Möglichkeiten.
Dies entspricht genau der Art des Erlebens der wirklichen, der verdrängten, verlagerten, der unheimlichen Wirklichkeit, die der Junge erlebt. Im Dunkeln liegt vieles, aber kraft großer Anstrengungen kommt doch im Laufe der Geschichte mehr und mehr Licht in dieses Dunkel. Auch der Titel dieser Episode ist sehr treffend zum Titel des Romans gewählt worden. Im Dunkeln lesen ist wörtlich und bildlich gemeint. Literatur und Leben geben sich nicht direkt preis, man muß die Farben und die chiffrenhaften Kratzer erst allmählich entziffern.
Und es steckt zugleich noch eine ästhetische Theorie, gewonnen aus erlebter Realität, in dieser dreiseitigen Episode. Der Lehrer beurteilt den Aufsatz eines Jungen sehr gut, weil dieser ganz schlicht den Alltag zu Hause geschildert hatte. Genau das, bemerkt der Lehrer, heißt schreiben. Das heißt, einfach die Wahrheit sagen. Darüber nun schämt sich der Erzähler, der für seinen Aufsatz ausgefallene Wörter aus dem Lexikon gesucht hatte. Diese Erfahrung ist wichtig, zugleich, auch darüber macht sich der Erzähler keine Illusionen, ist dies im Roman genau jene Hürde, die so überaus schwer zu nehmen ist. Weil die Wirklichkeit für ihn eine von der ganz vertrackten Art ist. Immer befindet sich der Erzähler in einer schwierigen Balance zwischen dem, was er schon weiß, und dem, was aus dem Angedeuteten und Nichtgesagten herausgehört werden kann.
Von der Mutter erfährt der Junge mehr als vom Vater. So hielt er ihr die Treue, was zur Folge hatte, daß er seinem Vater gegenüber untreu wurde. Denunziation und Mord werden aufgeklärt, daß Onkel Eddie irrtümlich hingerichtet wurde, gehört zum zentralen tragischen Ereignis des Romans, begleitet spannungsvoll die Geschichte des heranwachsenden, um Aufklärung bemühten Erzählers. Merkwürdig bleibt vieles: Jeder Spuk ist auf seine Art sehr konkret. Alles muß exakt sein, selbst das Verschwommene. Mit der Geschichte meiner Familie war es auch nicht anders. Ich erfuhr sie stückchenweise, durch Leute, denen selten alles bewußt war, was sie gesagt hatten.
Ein politischer Mord wird aufgedeckt. Doch zuvor leuchten die Bilder, die all dieses komplizierte, verworrene Geschehen begleitet haben, in vielen Nuancen auf. Der Erzähler wird zum Detektiv der Familie, was er schließlich zusammenträgt, erfährt zwar die Familie nicht in allen Einzelheiten, aber dem Leser wird es genauestens enthüllt und mitgeteilt. Er ringt seinen Opfern vor allem ihr lähmendes Verschweigen ab, er nimmt es auf sich, mit der Wahrheit zu leben, was allen Beteiligten nicht möglich schien.
Was die Eltern des Jungen nicht ertragen können, wird von ihm erforscht und ans Licht der Welt gebracht. Auch ein Beispiel, wie die Zeit nie sofort ihre Geheimnisse den Mitlebenden preizugeben vermag. In mühevoller Kleinarbeit historische und persönliche Wahrheit zu erforschen ist späteren Generationen aufgegeben.
Dies gilt immer und zu allen Zeiten, auch hier im Roman Im Dunkeln lesen von Seamus Deane.