Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold
Ihr naht euch wieder ...
Wolfgang Brenner: Der Patriot
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1998, 478 S.
Am 20. Juli 1954, zehn Jahre nach dem mißglückten Attentat auf Hitler, begab sich Dr. jur. Otto John von Westberlin nach Ostberlin, in den Hoheitsbereich der DDR. Genauer: Er wurde von seinem Freund Wolfgang Wohlgemuth, einem Westberliner Frauenarzt, in dessen Auto nach drüben gefahren. John war nicht irgendwer. Er hatte aktiv Widerstand gegen die Nazis geleistet, die seinen Bruder hinrichteten. 1950 wurde er - auf britische Empfehlung und Vorschlag des Bundespräsidenten Heuss - von Kanzler Adenauer als erster Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) eingesetzt und 1952 offiziell in dieses Amt berufen. Das BfV ist der Inland-Geheimdienst der Bundesrepublik Deutschland.
John landete zunächst beim sowjetischen Geheimdienst KGB in Karlshorst. Dann ließ er sich von der DDR als Kämpfer gegen Militarismus und Altnazi-Einfluß in der Bundesrepublik vorführen. Nach fünf Monaten, im Dezember 1954, ging John ungehindert nach Westberlin zurück. Er wurde verhaftet und im Dezember 1956 von einem Strafsenat des Bundesgerichtshofs, dem zwei ehemalige Nazirichter angehörten, zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Im Juli 1958 entlassen, lebte er zurückgezogen, von der Öffentlichkeit gemieden, ohne die Chance einer Rehabilitierung und ohne reguläre Pension. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte den Mut, ihm 1986 einen Ehrensold zuzusprechen. John starb 1997.
Der politische und mediale Wirbel, der auf sein zunächst ungeklärtes Verschwinden folgte, war dem Ereignis angemessen. Die Ostberliner Zeitung BZ am Abend übrigens stellte auf ihrer Titelseite die Frage, ob jemand den kleinen John gesehen habe - eine zufällig passende Schlagzeile, die mit Otto John nichts zu tun hatte, aber dennoch von der Agitationsabteilung im SED-Zentralkomitee gerügt wurde.
Vor diesem hier mit den wesentlichen Fakten skizzierten Hintergrund zeichnet Wolfgang Brenner, freier Autor des Jahrgangs 1954, die letzten Wochen vor dem Übertritt Otto Johns in Romanform nach, endend mit einigen Flaschen Wodka beim KGB. So kann es gewesen sein. Es ist ein gutes Buch geworden.
Wer immer sich an diesen Stoff wagen wollte, mußte zumindest eine beträchtliche Unklarheit in Kauf nehmen und sie durch seriöse Phantasie aufzuhellen versuchen: Die Umstände von Johns Übertritt sind bisher nicht zweifelsfrei erwiesen. Sie werden wahrscheinlich auch weiter im dunkeln bleiben. Wußte John, wohin ihn der Arzt von Westberlin aus bringen wollte? Hatte er selbst ein genaues Ziel in Ostberlin? In welcher physischen und psychischen Verfassung befand er sich? Der russische Außenpolitiker Valentin Falin, ehemals Botschafter der UdSSR in Bonn, hat dem Berliner Kammergericht 1995 eidesstattlich versichert, John sei nicht bewußt gewesen, wohin er von Wohlgemuth gefahren wurde. Das stützt Johns Behauptung, er sei entführt worden. Falin war jedoch kein Augenzeuge, seine Aussage genügte nicht für eine Wiederaufnahme des Verfahrens zwecks Revision des Urteils von 1956 (das einen Juristen doch recht merkwürdig konstruiert anmutet).
Der Autor hat das Problem auf zulässige und anständige Weise gelöst - er hat das Kunststück fertiggebracht, die Geschehnisse vor und während der Fahrt nach Ostberlin so in der Schwebe zu lassen, daß eine Art Entführung denkbar, aber wiederum auch nicht sicher ist. Vielleicht - dieses Wort drängt sich auf, wenn man das von Brenner zuvor ausgebreitete Bild Otto Johns vor Augen hat. Insgesamt wird in dem Buch eine Geschichte erzählt, die auf gesicherte Tatsachen gestützt ist, deren persönliche Details einschließlich Dialoge aber frei erfunden sind. Die Glaubwürdigkeit ist beträchtlich. Das innen- und außenpolitische Umfeld des Jahres 1954 stimmt, die Rückblenden auf die Widerstandsbewegung gegen Hitler und auf Ereignisse um den 20. Juli 1944 sind treffend. Das Schwanken der Generalität zwischen Staatsstreich und Treue zum Führer ist schlüssig dargestellt, ebenso das Beharren gegenüber den Westmächten auf einem ehrenvollen Frieden. Der nachempfundene Satz Stauffenbergs - Die Wehrmacht wird doch den Aufstand nicht selbst niederschlagen!- bringt einen verhängnisvollen Irrtum auf den Punkt.
Insbesondere die Persönlichkeit Otto Johns ist glaubwürdig gezeichnet. Deutlich wird seine antifaschistische Motivation, deutlich werden ebenso seine erheblichen Schwächen, speziell Alkohol und sexuelle Eskapaden. Der Leser ahnt Johns Scheitern, begreift seine Unfähigkeit, sich als Leiter des Verfassungsschutzes zu behaupten, und das heißt speziell, sich gegen den BND-Chef Gehlen durchzusetzen. John ist ein Patriot und ein labiler Mensch, von seinem Amt überfordert. Das Buch bietet den Ansatz einer Ehrenrettung, mehr noch aber schlüssige Erklärungen.
Sein besonderer Reiz liegt darin, daß wir im Rahmen einer spannenden Handlung einem Dutzend politischer Persönlichkeiten begegnen: dem autokratischen Reptil Adenauer, seinem berüchtigten Staatssekretär Globke, in Hitlers Justizministerium Kommentator der Judengesetze, dem vom Kanzler nicht geliebten Innenminister Schröder, CIA-Chef Dulles, nicht zuletzt dem Ex-General Gehlen, einst Leiter der Spionagezentrale Fremde Heere Ost, der dem bundesdeutschen Auslandsnachrichtendienst bis 1965 vorstand, gestützt auf zahlreiche tiefbraune Experten. Ihr naht euch wieder, möchte man frei nach Goethe angesichts der Gestalten sagen, die der Autor aus jenen 50er Jahren hervortreten läßt, die ein Eldorado der kalten Krieger und entscheidend für die politische Einbindung der Bundesrepublik waren.
In diesem Zusammenhang sei an eine jüngste Publikation über das Bundesamt für Verfassungsschutz erinnert, die erkennen läßt, wie wenig Einfluß Otto John auf die personelle Zusammensetzung seines Amts gehabt haben dürfte und wie auch bei der Rekrutierung der BfV-Mitarbeiter auf Fachleute aus der NS-Zeit zurückgegriffen wurde, ohne die es angeblich in den Geheimdiensten nicht gehen würde. Hansjoachim Tiedge, ehemals Regierungsdirektor und Chef der Spionageabwehr im Bundesamt für Verfassungsschutz, 1985 mit viel Wissen in die DDR gekommen, schreibt in seinem im September 1998 gerichtlich konfiszierten Buch Der Überläufer. Eine Lebensbeichte (Verlag Das Neue Berlin): Es ist gar nicht möglich, von meinen Anfängen im BfV zu berichten, ohne auf die Durchsetzung des Amtes mit lupenreinen Nazis zumindest in den ersten Jahren zu sprechen zu kommen. Diese Tatsache hat sicherlich dazu beigetragen, daß John zum zweitenmal Widerständler wurde - und scheiterte.
Dahingestellt sei, ob Brenner in seinem Buch nicht an einigen Stellen etwas überzeichnet hat. Das gilt beispielsweise für das recht flapsige Auftreten Johns gegenüber dem Bundeskanzler. Es gilt ebenso für die antisemitisch gefärbte Abneigung Adenauers gegen den französischen Ministerpräsidenten Mendès-France, mit dem er sich 1954 immerhin über die Saar-Abstimmung geeinigt hat, von der man schon vorher sagen konnte, daß die Bevölkerung für Deutschland votieren würde.
Die wenigen Ungenauigkeiten im Text sind bei der Fülle des verarbeiteten Materials entschuldbar. So hat Gestapo-Chef Müller zweifelsfrei Himmler nicht mit Herr Reichsführer SS angesprochen, sondern nur mit Reichsführer (S. 11); es gab und gibt keine Bundesstaatsanwaltschaft, sondern die Bundesanwaltschaft (S. 43); es muß SS-Brigadeführer heißen statt Brigadenführer (S. 60); Stauffenberg war im Juli 1944 nicht Oberstleutnant, sondern Oberst (S. 349 f.).
Alles in allem ist Der Patriot ein Buch, das ein wichtiges Stück deutsche Geschichte und eine tragische Persönlichkeit darstellt. Es bietet gewissermaßen die bisher letzte Erkenntnis über Otto John. Ob die ganze Wahrheit jemals ans Licht kommen wird, ist fraglich. Der Arzt Wohlgemuth, der bis 1975 in der NVA-Klinik Bad Saarow arbeitete und 1978 in Westberlin starb, dürfte sich zumindest im Osten aktenkundig geäußert haben. Was der KGB, Wohlgemuths mutmaßlicher Auftraggeber, und nun der russische Geheimdienst als KGB-Nachfolger noch immer unter Verschluß hält, wird man bestenfalls in einigen Jahren ausgraben können - oder nie erfahren. Gleiches gilt für die John-Akten beider deutscher Staaten, die im Bundesarchiv einträchtig beieinander verschlossen sind.