Eine Rezension von Kathrin Chod
Sternstunde! Sternstunde?
Michael J. Neufeld: Die Rakete und das Reich
Wernher von Braun, Peenemünde und der Beginn des Raketenzeitalters.
Aus dem Amerikanischen von Jens Wagner.
Brandenburgisches Verlagshaus, Berlin 1997, 400 S.
Sojourner auf dem Mars. Weltweit verfolgten Millionen Menschen im vergangenen Jahr per Fernseher mit, wie sich das kleine Mobil Zentimeter um Zentimeter auf dem roten Planeten vorwärts bewegte. Wieder einmal, so betonte man in der Bundesrepublik, hatte Deutschland einen beträchtlichen Anteil an einer Sternstunde bei der Eroberung des Weltalls: Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut in Mainz hatten die Spürnase des Sojourners erdacht, entwickelt und gebaut. Der amerikanischen Öffentlichkeit wird dieser beträchtliche Anteil weit weniger geläufig sein. Typisch amerikanische Ignoranz, könnte man sagen, aber das war auch einmal anders. Wurde doch mit Wernher von Braun ein Deutscher gefeiert, der Amerika den Weg zu den Sternen eröffnet hatte. Noch heute sind viele Wissenschaftler und Historiker in den USA von Person und Wirken des Raketenpioniers fasziniert, was sich auch in einer Vielzahl von Veröffentlichungen niederschlägt. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn gerade aus Amerika mit Michael Neufelds Buch ein Werk kommt, welches wohl ein Standardwerk zu Peenemünde und Wernher von Braun ist. 1995 in New York erschienen, liegt es nun in einer gelungenen Übersetzung auf dem deutschen Markt vor. Erwähnt werden sollte auch, weil durchaus nicht mehr üblich, daß der deutschen Ausgabe mit dem Raumfahrtjournalisten Peter Stache ein versierter Kenner der Materie als wissenschaftlicher Betreuer zur Verfügung stand.
Erst im letzten Jahrzehnt ist die unkritische, euphorische Bewunderung, die von Braun in den Staaten genoß, einer skeptischeren Beurteilung der gesamten Operation Paperclip, in deren Verlauf deutsche Raketenspezialisten nach dem Krieg in die USA gebracht wurden, gewichen. Plötzlich fand auch die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen bei der Produktion der V2 Beachtung. Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, daß die moralische Empörung reichlich spät kommt, verpönt war sie noch zu jener Zeit, als man die Deutschen im Kalten Krieg brauchte, um den Wettlauf zum Mond zu gewinnen.
Ein großer Vorzug von Neufelds Studie ist, daß sowohl schlichte Bewunderung als auch vereinfachendes Moralisieren keinen Platz in ihr haben. Neufeld behandelt detailliert die Entwicklung der Raketentechnologie in Deutschland seit Ende der zwanziger Jahre, über die Stationen Kummersdorf, Peenemünde, Mittelwerk Dora. Er beginnt 1929, als Oberstleutnant Karl Emil Becker in den Räumen des Heereswaffenamtes in Berlin die Forschung über Raketenwaffen wiederbelebt. Die Alliierten hatten im Versailler Vertrag Deutschland den Besitz schwerer Artillerie verboten, die Raketenentwicklung jedoch an keiner Stelle erwähnt. Ein Umstand, der deutsche Militärs zu der Überlegung veranlaßte, mit antriebsstarken Raketen schwere Kanonen großer Reichweite zu ersetzen. Zeitgleich mit diesen Forschungen fingen Raumfahrtenthusiasten mit ernsthaften Entwicklungsarbeiten an einer Flüssigkeitsrakete an. Bei den Tests eines Benzin-Flüssigsauerstoff-Triebwerkes 1930 war schon ein junger Mann mit von der Partie, der in Peenemünde einmal die entscheidende Rolle spielen sollte: ein reicher Adliger, 18 Jahre alt und unmittelbar vor dem Beginn eines Maschinenbaustudiums - Wernher von Braun.
Von Braun begann dann bereits Ende 1932 unter der Ägide der Militärs seine Dissertation zur Flüssigkeitsraketentechnik auf dem Truppenübungsplatz Kummersdorf. Erst in der Folge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gelang es dem Heer jedoch, sämtliche freien Raketengruppen auszuschalten, um nach der Devise Alles unter einem Dach die geheime Entwicklung in Kummersdorf zu konzentrieren. Bedenken über diese Art von Vereinnahmung gab es unter den Raketenforschern nicht. Wernher von Braun äußerte dazu später: Unsere Haltung gegenüber der Reichswehr ähnelte der der frühen Flugpioniere, die in den meisten Ländern versuchten, den militärischen Geldbeutel für ihre eigenen Zwecke anzuzapfen, und die angesichts des potentiellen zukünftigen Nutzens ihrer Erfindungen wenig moralische Skrupel hatten. Die Frage war in diesen Diskussionen lediglich, wie die goldene Kuh am erfolgreichsten gemolken werden konnte. Neufeld sieht in dieser Haltung eine bei Forschern, Ingenieuren und Wissenschaftlern in der Moderne typische Einstellung.
Der enorme technische Fortschritt, der in Kummersdorf in relativ kurzer Zeit erreicht werden konnte, resultierte, wie der Autor darlegt, nicht nur aus der gelungenen Konzentration der Raketenentwicklung an einem Ort. Die Aufrüstungsanstrengungen der Nationalsozialisten führten außerdem zu ständig steigenden Geldzuweisungen. Ausgaben, die noch einmal enorm zunahmen mit dem Bau der Heeresanstalt in Peenemünde. Neufeld gibt Schätzungen wieder, wonach die Errichtung der dortigen Anlagen 300 Millionen Goldmark kostete. Hierzu kamen jährliche Betriebskosten von 150 Millionen Reichsmark. Die Auswirkungen auf die Wissenschaft, das Ingenieurwesen und die Kriegführung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts waren tiefgreifend: Die A4/V2-Rakete war und ist die Vorläuferin aller modernen Lenkraketen und Trägersysteme. Hiermit zeichnet Neufeld das zentrale Paradoxon Peenemündes, denn den langfristigen Folgen steht kurzfristig ein absolut mangelhaftes Ergebnis für die deutsche Kriegführung gegenüber. Der Autor weist nach, daß es kein durchdachtes Konzept gab, wie denn beispielsweise die A4-Rakete in der Praxis den Kriegsverlauf beeinflussen sollte. Die Verantwortlichen in Peenemünde hätten auf den psychologischen Schock gesetzt, den die neuartige und mächtige Waffe beim Feind auslösen würde. Nach dieser Überraschungswirkung wäre lediglich der Einsatz als relativ treffsicheres Artilleriegeschoß geblieben. Die A4 war nach Auffassung des Autors das Produkt eines beschränkten technologischen Denkens, das den strategischen Bankrott des Konzeptes nicht erkannte. Militärisch gesehen, hätte sich das deutsche Heeresraketenprogramm als eine Zeit- und Geldverschwendung erwiesen: Selbst im Vergleich mit den konventionellen strategischen angloamerikanischen Luftangriffen war die Wirkung der V2-Angriffe kaum von Bedeutung. Die gesamte Sprengstoffmenge aller verschossenen A4-Raketen war kaum größer als die eines einzigen RAF-Angriffs. Darüber hinaus fallen die bei den V2-Angriffen getöteten 5000 Zivilisten (die bei der Produktion der V2-Rakete gestorbenen Häftlinge sind hier nicht mit einberechnet), im Gegensatz zu den vielen Zehntausenden von Menschen, die bei den alliierten Luftangriffen auf Hamburg, Dresden und Tokio starben, ganz zu schweigen von Hiroshima und Nagasaki, kaum ins Gewicht.