Eine Rezension von Licita Geppert
Die Tücken des Übergangs oder: Löst Rußland auf und reißt es in Stücke
Hélène Carrère dEncausse: Nikolaus II.
Das Drama des letzten Zaren.
Aus dem Französischen von Jochen Grube.
P. Zsolnay Verlag, Wien 1998, 565 S.
Mit derart dramatischen Worten beschrieb Maurice Paléologue, der Botschafter Frankreichs in Rußland, im März 1917 den Geist der russischen Revolution, deren weiterer Verlauf nicht nur den Tod für den Zaren und zahlreiche Mitglieder seiner Familie bedeutete, sondern das Antlitz der politischen Weltkarte für dieses Jahrhundert in einer bis dahin unvorstellbaren Weise prägte.
Die im Jahre 1894 erfolgte Krönung des 26jährigen Thronfolgers zum russischen Zaren Nikolaus II. leitete das ein, was für die Regierungszeit des letzten Romanow so charakteristisch ist und ihr einen inneren Zusammenhang verleiht, nämlich den verzweifelten Versuch, Rußland in die Moderne zu führen, den unerläßlichen Übergang vom Ancien régime Rußlands in das europäische Zeitalter zu sichern, ohne dabei das Land seiner Wurzeln zu berauben oder es sich selbst zu entfremden. Der letzte Zar wurde nach Ansicht der Autorin bisher nur einseitig entweder als schwach und ziellos (von Familie, Zeitgenossen und Historikern), als Neurotiker (von Freud) oder gar als Blutsäufer (von den Bolschewiken) dargestellt. Die Neubewertung seiner Persönlichkeit, die sich Carrère dEncausse mit deutlicher Sympathie für den Zaren zur Aufgabe gemacht hat, liegt vor allem in der Erkenntnis, daß Nikolaus II. um die vor ihm liegenden großen Aufgaben wußte und sich damit aus Gründen der Herrschaftssicherung auseinandersetzte. So hebt sie das innere Drama hervor, dem er sich ausgeliefert sah: Um die Macht zu behalten, hätte er Macht abgeben müssen. Das führte zu ständigen Kämpfen zwischen Gefühl und Verstand, wenn es um die weiteren Geschicke Rußlands ging. Seine vorherrschenden und nur allzu offensichtlichen Charaktereigenschaften kann auch sie nicht ändern, stellt sie Nikolaus II. doch genau als den ewig unentschlossenen Zauderer dar, der zumeist einer Bestätigung von außen bedurfte, um sich seiner Sache sicher zu sein. So trifft er die richtigen Entscheidungen oft Monate oder Jahre zu spät, wo sie sich dann als kontraproduktiv erweisen. (Es sei an den historischen Satz eines anderen russischen Staatsmannes erinnert: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.) Er überläßt seiner Frau, der deutschgeborenen Zarin Alexandra, und deren Einflüsterer Rasputin in der größten Krise des Landes die Führung, was dazu führt, daß die Regierung aus Instabilität handlungsunfähig wird, wodurch wiederum der Unmut des Volkes und der Armee immer stärker geschürt wird. Weder Nikolaus noch seine Gemahlin, noch Rasputin verfügen über das notwendige Gespür für die Stimmung im Lande, von militärischen oder wirtschaftlichen Notwendigkeiten einmal ganz abgesehen. Der Zar glaubt an den Muschik, den (in Wahrheit im Elend verharrenden, antriebsarmen, jeder Neuerung gegenüber ablehnend eingestellten) Bauern als wahre Stütze seiner Macht, verpaßt aber viele Gelegenheiten, ihn sich gewogen zu machen. Seine Reformen mußten im Ansatz steckenbleiben, da er - ganz dem dynastischen Prinzip ergeben - als oberstes Ziel seiner Politik die Wahrung der bisherigen Herrschaftsrechte beibehielt, ohne sich dabei um die gesellschaftlichen Veränderungen im übrigen Europa zu kümmern. Obwohl es sein erklärter Wille ist, dem Beispiel seines Großvaters, des Zaren Alexander II. (der sogenannte Befreierzar), zu folgen, das Land nach Europa hin zu öffnen und ihm seine asiatische Maske vom Gesicht zu reißen, hat er dabei ständig dessen bei einem Attentat verstümmelten Leichnam vor Augen, was ihn wiederum vor einer Aufteilung seiner Macht zittern läßt. So bleibt Nikolaus der Zar des Blutsonntags des Jahres 1905, aber auch derjenige, unter dessen Herrschaft ein Jahr später die konstitutionelle Phase der russischen Politik eingeleitet wurde. Intellektuell sich wenig hervortuend und auch teilweise intellektuellenfeindlich eingestellt, ermöglichte Nikolaus II. dennoch eine Blüte der russischen Kultur, die unter der Bezeichnung Silbernes Zeitalter in die Geschichte einging. Nicht nur tiefreligiös, sondern auch zutiefst abergläubig veranlagt (auch wenn die Verfasserin dies nicht zugesteht), sieht sich jedoch der am Tage des Hiob geborene Zar vom Zeitpunkt seiner Geburt an von negativen Vorzeichen umgeben, die schließlich den Rang von sich selbst erfüllenden Prophezeihungen einnehmen. Gottvertrauen ersetzt bei ihm häufig eigenes Handeln, auch wenn Carrère dEncausse den Leser von einem persönlichen politischen Konzept des Zaren zu überzeugen sucht: Nikolaus II. war Autokrat, und aus tiefer Überzeugung, aber auch, weil er sich dringend notwendigen Reformen gegenübersah, Bewahrer dieser Herrschaftsform. Darüber hinaus trieb ihn die Gewißheit, daß es nur der Selbstherrschaft gelingen konnte, eine vergleichbare Aufgabe anzupacken: die Autokratie im Dienst von Reformen, die wiederum sie in ein schlechtes Licht rückten, also der reformbewußte Autokrat wider Willen - genau das kennzeichnete Nikolaus II. und seine Herrschaft. In Nikolaus II. offenbarte sich der kaiserliche Wille, auf den keine Reform noch einer ihrer einzelnen Abschnitte verzichten konnte. Er, und nur er, suchte sich in Witte und Stolypin die Architekten seines Reformgebäudes ... Niemand außer ihm selbst, weder ein Stolypin noch ein Witte, die Kaiserin oder irgendeiner seiner stets in die Dinge sich einmischenden Onkel, hätte die großen Entscheidungen durchsetzen oder ihm seine Ansichten aufzwingen können. Abgesehen davon, daß der Zar Witte innerlich ablehnte, wie die Autorin vielfältig belegt, und sich auch mit Stolypin bald überworfen hatte und daher beiden kein Spielraum vergönnt war, ihre Reformen zu einer durchgreifenden Wirkung zu bringen, waren aber der immer genau im falschen Moment zum Durchbruch kommende Eigensinn des Zaren und seine Zurückweisung ernsthafter, notwendiger Ratschläge sein eigentliches Problem. Damit gibt die Verfasserin gegen ihren erklärten Willen die Gründe für sein Scheitern preis.
Neben den vielfältigen, notwendigen Betrachtungen über die Lage und Ereignisse im Lande wird der Betrachtung der Person Lenins und seiner historischen Rolle breiter Raum gewidmet. Daß Lenin über genau jene Eigenschaften verfügte, an denen es dem Zaren so bitter gebrach: Visionen, staatsmännisches Geschick, die Fähigkeit, theoretische Erkenntnisse anzuwenden, angeborenes Durchsetzungsvermögen und einen ausgeprägten machtpolitischen Instinkt, macht die Autorin Lenin geradezu zum Vorwurf, obwohl sich in ihrer Geschichtsdarstellung erweist, daß weder der schwache Alleinherrscher noch eine (im Verlaufe der Revolution) demokratisch gewählte Regierung das zerrüttete Riesenreich noch zu regieren vermochten. In dieser Situation war (der in gewisser Weise ebenso autokratisch eingestellte) Lenin für die sogenannten europäischen Mittelmächte äußerst willkommen als Destabilisierungsfaktor eines immer noch mächtigen Reiches. Die Verfasserin verweist darauf, daß die große finanzielle Unterstützung der russischen Revolutionäre unter Lenins Führung durch das Deutsche Reich durchaus keine Legende, sondern Realität war. So erschafft sich die Geschichte offensichtlich neue Herrscher, wo es den alten an Herrschaftswillen oder -können fehlt.
Carrère dEncausse hat mit ihrem Buch über den Zaren eine komplexe politische Biographie vorgelegt, die weit mehr ist als das: Sie ist eine kenntnisreiche politische Geschichte des Russischen Reiches von den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zur Russischen Revolution der Jahre 1917/18. So zeichnet sie ein menschliches Porträt, stellt aber weniger den Menschen Nikolaus II. vor, der - ein zärtlicher Gatte und Familienvater - von privaten und politischen Krisen gebeutelt wurde, sondern den schwachen, wankelmütigen und daher größtenteils unfähigen Staatsmann, dessen Politik zwar reformerische Impulse brachte, sich bei allen guten Ansätzen aber dennoch verhängnisvoll für ihn wie für sein Land auswirken sollte. Wer kann heute zweifeln, daß diese Etappe notwendig war, um auch der postsowjetischen Erneuerung den Weg zu bahnen? Wie der Schlußsatz dieser Biographie beweist, denkt die Autorin in säkularen Dimensionen, wobei sie offensichtlich die Phase des Sowjetstaates als geschichtliche Entgleisung betrachtet, die ohne Bedeutung bleibt, währenddessen der Faden der noch unter dem Zaren begonnenen Erneuerung heute wieder aufgenommen werden kann, um das Land dem Chaos zu entreißen. Diese streitbare Biographie ist zweifellos das historische Meisterwerk, als das es in Frankreich gefeiert wurde, auch wenn der Blickwinkel hierzulande sicherlich ein etwas anderer sein wird.