Eine Rezension von Bernd Heimberger
Schmerz der Stadt
Bernard Larsson: Berlin - Hauptstadt der Republik
Fotografien aus einer geteilten Stadt 1961-1968.
Steidl Verlag, Göttingen 1998, 251 S.
Zuerst ist die Verblüffung da. Das ist nicht Berlin! Das ist nicht das Berlin dieses Jahrhunderts. Und doch: Das ist das Berlin der Sechziger dieses Jahrhunderts. Das ist das Berlin einer anderen Epoche. Es ist das Berlin des Bernard Larsson. Wer in den Bildband Berlin- Hauptstadt der Republik des 1939 in Hamburg geborenen Schweden schaut, muß Berlin noch einmal neu lernen.
Der Fotograf, der 1967 den niedergestreckten, getöteten Studenten Benno Ohnesorg bildhaft dokumentierte, erteilt selbstherrlichen Berlin-Bekennern Lektionen. Der Berlin-Porträtist gibt dem Betrachter kein beliebiges Berlin zur Ansicht. Das von Bernard Larsson gebotene Berlin betrachtet den Betrachter. Ein verblüffender Dialog wird möglich. Larsson hat den berühmtesten siamesischen Stadtzwilling nicht nur konterfeit. Er hat den matten Glanz der Frontstadt, des Schaufensters des Westens, der SPEW (sprich: Selbständige politische Einheit Westberlin), abgelichtet. Er hat das keinesfalls idyllische Arbeiter-und-Bauern-Paradies des sowjetischen beziehungsweise demokratischen Sektors, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, illustriert.
Wenn etwas gewagt ist, dann der Titel des Buches. Hauptstadt welcher Republik war das Berlin der Sechziger? Die in der Gefangenschaft der Geschichte befindliche Stadt hatte eine manipulierte Gegenwart - die nun tauglich für Geschichtsklitterung ist? Nicht Hauptstadt der BRD, war Berlin auch nicht Hauptstadt der DDR. Taktischerweise residierte das Verteidigungsministerium vor den Toren der Stadt. Berlin - Hauptstadt der DDR war eine Deklaration der Administration mit reduziertem Inhalt. Berlin war im geteilten Deutschland keiner Republik Hauptstadt!
Das Wesentliche der Bilder Bernard Larssons ist, daß sie die g a n z e Stadt im Blick haben. Eine Stadt, die sich noch nicht aus den Klauen des Krieges befreit hat. Ein Acker-Bau-Land mit Ruinen. Beklemmend, zum Beispiel, die Leere vorm abgeriegelten Brandenburger Tor - vom sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten aus gesehen. Das Berlin des Fotografen ist ein verstörtes, verkrüppeltes, verhuschtes Berlin. Ist ein schweigendes Berlin. Ist ein schreiendes Berlin. Der Schrei kommt als Echo zurück. Das Echo ist spürbarer Schmerz. Die Fotos sind vielsagende Zeit-Bild-Berichte über die Nichtexistenz einer existierenden Stadt. Über eine Stadt, deren Elend ihre enttäuschende Eleganz, ihre entlarvenden Empfänge, ihre diskreditierenden Engagements, ihre organisierten, spontanen, strategischen Demonstrationen waren, die schließlich zum Mythos der Sechziger wurden. Die eigentliche, fortdauernde Revolte der jungen Generation, ihr Bekenntnis zu den Beatles, hat kein Bild im Buch. Aufbruch und Aufbau der Stadt, die der Fotograf nicht einäugig ignorierte, sah er eher als Abbruch. Als Abbruch der enthaupteten Hauptstadt eines enthaupteten Reiches. Den Abbruch Alt-Deutschlands hat der Schwede genauer gesehen als andere. Bernard Larsson zeigt eine Stadt, die sich auf eine lange Zwischenzeit einrichtete. Die als Zukunft auszugeben war der Irrtum. Verblüffend!