Eine Rezension von Kurt Wernicke


Wie ein Franzose die deutsche Reichshauptstadt um 1900 sah

Jules Huret: Berlin um Neunzehnhundert

Aus dem Französischen von Nina Knoblich. Mit einer Einführung von Ehrhard Bödecker.

Verlag Tasbach, Berlin 1997, 402 S.

Der Neudruck der ersten deutschen Übersetzung dieses 1909 in Paris publizierten Werkes - sie erschien schon im selben Jahr im Verlag Albert Langen in München - ist aus mehreren Gründen zu begrüßen: Das zur Zufriedenheit der Heutigen völlig gewandelte deutsch-französische Verhältnis macht es schon interessant, aus dem Abstand von fast einem Jahrhundert eine Stimme wiederzuerwecken, die in einer Zeit der herbeigeredeten und verinnerlichten „Erbfeindschaft“ relativ leidenschaftslos ihren französischen Landsleuten ein unvoreingenommenes Bild der Deutschen zu vermitteln unternahm. Am Ende des Jahrhunderts auf eine Charakterdarstellung vornehmlich der Deutschen in ihrer Hauptstadt an dessen Anfang zu schauen, gibt Anlaß zu manchem interessanten Vergleich. Das traurige Wissen um zeitweiliges deutsches Abgleiten in eine zu Beginn des Säkulums in Mitteleuropa nicht für möglich gehaltene Barbarei legt aus der Perspektive der Nachgeborenen die Spurensuche nach schon vorher latenten Anzeichen für die im zweitem Jahrhundertdrittel ans Licht der Geschichte katapultierte Schreckensvollziehung nahe; schließlich vermittelt er tiefe Einblicke in das Berliner Leben vor neun Jahrzehnten und regt zu Parallelen zwischen zwei weitläufig verwandten metropolitanen Umbruchphasen an.

Jules Huret (1864-1915) war zu seiner Zeit ein im französischen Sprachgebiet bekannter und beliebter Journalist, der sich als Literaturkritiker einen Namen gemacht hatte, bevor er im Auftrag von „Le Figaro“ ausgedehnte Reisen nach Nord- und Südamerika unternahm, die ihren Niederschlag als Reisefeuilletons in der Zeitung und später als Bücher fanden. 1905 bis 1907 weilte er in Deutschland, und als Frucht dieses Aufenthaltes erschien 1907-1911 sein vierbändiges Sammelwerk En Allemagne, dessen dritter Teil den Titel Berlin trug. Der Titel der deutschen Übersetzung wurde um den Zusatz „um 1900“ erweitert, was aber den Inhalt mitnichten trifft: Hurets Beobachtungen stammen eben aus der Mitte des ersten Jahrzehnts n a c h der Jahrhundertwende, und für die Entwicklung von Stadtbild und Städtecharakter brachte dieses erste Jahrzehnt den rasanten Trend zu einem Lebensstil, den man (wie man damals in naiver Verkennung dessen, was der Begriff der Welt noch an Inhalt bescheren sollte) „Amerikanisierung“ der Reichshauptstadt nannte. Der Neudruck ist auch eine Hommage an den Autor, der vielen heutigen Reportern zum Vorbild dienen könnte, weil er ohne Voreingenommenheit an seine Beobachtungen ging und dem unter die Lupe genommenen Gegenstand erst einmal ein - natürlich distanziertes - Wohlwollen entgegenbrachte. Wahrscheinlich war er schon finanziell unabhängig genug, das in der Redaktion erwartete vorgegebene Stereotyp vernachlässigen zu können, das Journalisten auch heute zu den parteilichen Scheuklappen der nicht vor Ort befindlichen Chefredaktion zwingt ...

Was weiß der Autor nun seinen Landsleuten - und besonders seinen Parisern - über die Hauptstadt des „Erbfeindes“ als besonders bemerkenswert mitzuteilen? Beeindruckt ist er von dem Tempo der städtebaulichen Entwicklung, das die Zwei-Millionen-Stadt inklusive der sie umgebenden Region so schnell wachsen läßt, aber auch von der Breite und Helle der neuentstehenden Straßen und der Funktionstüchtigkeit der öffentlichen Verkehrsmittel. Während man sich in Berlin selbst durchaus des Vorhandenseins wenig repräsentativer Wohnquartiere bewußt war, schwärmt Huret von der berlintypischen Abwesenheit eklatanter Armenviertel, wie er sie z. B. aus London und Paris kannte: Er fand sie auch nicht bei seinen Streifzügen im Berliner Osten und Norden. Auf der Suche nach wenigstens e i n e m Beispiel für einen Berliner Slum geriet er mit amtlicher Hilfe in das Scheunenviertel (allerdings vor der nach 1918 dorthin einsetzenden spezifischen Einwanderung) und war enttäuscht: Es schnitt gegenüber ihm einschlägig bekannten Gegenden in London und Paris noch sehr gut ab. Bloß den „Krögel“ ließ Huret als Slum gelten - aber der war ja viel zu klein, um die Bezeichnung zu verdienen. Die Bewunderung für den hohen Stellenwert der öffentlichen Sorge wie der privaten Aufmerksamkeit für Hygiene in allen Lebensbereichen veranlaßt Huret immer wieder zu breiter Schilderung der vielen Erscheinungsformen, in der sie ihm entgegentritt. Dem neuen städtischen Virchow-Krankenhaus widmet er gar ein ganzes Kapitel, das des Schwärmens nicht genug tun kann - giftige Seitenblicke auf den unbefriedigenden Zustand Pariser öffentlicher Krankenhäuser eingeschlossen. Ähnlich ironisch äußert er sich zur Sauberkeit in Büros bzw. Amtsstuben im Vergleich zwischen Berlin und Paris. Ganz besonders rühmt er die städtischen öffentlichen bzw. Volksbäder. Ein schmerzliches Gefühl der Nostalgie weht natürlich den Rezensenten des Jahres 1998 an, wenn er liest: „Man wandert durch Straßen, deren Reinigung regelmäßig und mit Sorgfalt besorgt wird, bewegt sich unter lauter reinlich gekleideten Menschen, die, auch in den ärmeren Vierteln, sich schämen würden, ein Elend in Lumpen zur Schau zu stellen. In den Straßenbahnen, in den Eisenbahnzügen darf man sicher sein, daß niemand an einem vorbei auf den Boden spuckt, und man kann in die zweite oder die dritte Klasse einsteigen, ohne durch Schmutz in den Waggons oder durch zweifelhafte Berührungen belästigt zu werden. Man weiß, daß alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden, um eventuelle Gefahren nach Möglichkeit einzuschränken, und hat die Beruhigung, daß jeder sich seiner Rechte und Pflichten bewußt ist und daß, wenn Konflikte entstehen, eine gerecht denkende Polizei zum Schutze bereit ist.“ (S. 279 f.)

Der Autor hielte es für möglich, daß an der deutschen Grenze ein Schild die Aussage träfe HIER WIRD DAS GESETZ BEFOLGT (S. 280). An einer Fülle von Beispielen versucht er seinen französischen Lesern begreiflich zu machen, daß das vielfach in der Welt bewunderte Voranschreiten Deutschlands auf produktivem, konsumptivem, sozialem und gesundheitlichem Gebiet unweigerlich verknüpft ist mit der Allgegenwart eines Aufsichts- und Kontrollapparates staatlicher oder kommunaler Provenienz (alle möglichen Polizeien eingeschlossen), dem sich die Gesellschaft notabene zumeist mit hohem Verständnis unterwerfe; das eine sei eben ohne das andere nicht zu haben. (Allerdings hat sich Huret ein Kapitel zur Berliner Kulturszene versagt, in der die Akzeptanz obrigkeitlicher Aufsicht wohl schmaler ausgefallen wäre!) Die Liebe des Berliners für den Ausflug ins „Grüne“ (es gibt darüber hinaus ein eigenes Kapitel „Die Lauben“) verknüpft Huret mit seiner Sympathie für die allenthalben anzutreffende Selbstdisziplin der Menge. Weil er mit gegenteiligen Charakterzügen seiner Landsleute aufgewachsen war, urteilte er auf diesem Feld vielleicht allzu nachsichtig ... Dabei hält er andererseits mit kritischen Bemerkungen zu beobachteten Schwächen im Charakter der Berliner nicht zurück: Sie haben keinen Geschmack in ihrer Kleidung, sie entbehren der Charmanz gegenüber Frauen, sie haben praktisch kein Gespür für ausgeprägten Individualismus, sie sind geradezu zwanghaft gesellig, sie sind rechthaberisch, sie sind unmanierlich im Umgang, sie sind - polizeilich geregelt - prüde. Letzterem steht allerdings sein begeisterter Bericht über das Freibad Wannsee entgegen, den er jedoch mit der Fußnote ins rechte Lot bringen kann, daß seit seiner Eloge das ungezügelte Treiben in polizeilich vorgeschriebene Bahnen gelenkt worden sei (S. 56). Typisch für den Vorteil eines unbefangenen Blicks bietet sich sein Urteil über gewisse Postkartenmotive dar: In Berlin gehört es seit damals zum selbstverständlichen guten Ton, „Pinsel-Heinrichs“ Motive ganz toll zu finden; Huret hingegen - der den Künstler nicht kennt und daher namenlos läßt, aber mit Gewißheit beschreibt er Zille-Motive! - stoßen die Unflätigkeiten auf den zum Verkauf angebotenen Postkarten ab: „Scheußliche nackte Frauengestalten von unförmiger Dicke und eine Menge ähnlicher Kunstwerke, die zu beschreiben meine Feder sich sträubt. Rabelais hätte keine größeren Derbheiten erfinden können.“ (S. 274)

Der Autor beherrschte natürlich den auch zu seiner Zeit schon weithin bekannten Journalistentrick, gesammelte Informationen plus eigene Ansichten in den Mund eines fiktiven Interview-Partners zu legen. Diese Methode tritt uns in dem Kapitel „Arbeitgeber und Arbeiter“ ausgeprägt entgegen. Nichtsdestoweniger verdanken wir diesem Kapitel einen besseren Überblick über Einkommensverhältnisse diverser Arbeiterkategorien, als er aus Gewerkschaftsgutachten und Dissertationen zu gewinnen wäre: Huret bietet uns bereits einen aufgearbeiteten Extrakt aus den dort erörterten Verhältnissen. Etwa in gleicher Weise macht er mit der Funktion und dem Innenleben der preußischen Armee bekannt: Was man aus seiner Feder namentlich über Werdegang, Lebensumstände und Weltbild der preußischen Offiziere erfährt („Offiziere und Soldaten“, S. 303-343), drängt ganze Kompendien zu diesem Thema höchst eindrucksvoll zusammen. (Ein ähnlich angelegtes Kapitel „Die Junker. Besuch eines Rittergutes“, S. 190 ff., nimmt sich angesichts des Titels des Buches in seiner Umgebung mehr als fremd aus. Es soll offenbar den gefürchteten ostelbischen Rittergutsbesitzer entmythologisieren, indem er als erfolgreicher moderner Agrarunternehmer vorgestellt wird.)

Huret wußte als erfahrener Journalist sehr gut, daß ein Reiseschriftsteller den Erfolg auch eines seriösen Buches durch ein gewisses Maß an Klatsch nur befördern kann. Der tritt konzentriert im Kapitel „Die Gesellschaft und die Snobs“ zutage, das ein kritisches Bild einer Parvenue-Clique zeichnet, die viel zu schnell zu Reichtum gelangt ist, selbst am Kaiserhof, nicht ohne Zutun des Kaisers, dem alten Adel (d. h. den Junkern, denen Huret, beeindruckt durch ihre Geschichte, mit einiger Sympathie begegnet) den Rang abgelaufen hat und hinter ihrem Protz nicht verbergen kann, daß in den Berliner „Kreisen“ kein wahrer Luxus, keine wahre Eleganz anzutreffen ist. Mit einiger Häme weiß Huret auch einen Schuldigen dafür auszumachen, daß die vergnüglichen Zeiten der jeweiligen winterlichen „Saison“ am Hof des alten Kaisers Wilhelm I. einer wesentlich frostigeren Etikette gewichen sind: die Kaiserin mit ihren philiströsen Ansichten! Da sie seit ihrer Heirat eigentlich ununterbrochen mit Mutterschaften beschäftigt war, haben ihr ohnehin schon mitgebrachter Pietismus und ihre Prüderie irreale Maßstäbe angenommen. „Man hat Ihnen gewiß schon erzählt, daß sie griechische Statuen und Aktstudien anstößig findet ...“, zitiert er einen seiner fiktiven Gesprächspartner (S. 130).

Nicht ohne ein gewisses Maß an Schrecken liest man Hurets umfangreichstes Kapitel: „Der Antisemitismus“ (S. 344-383). Schon die Tatsache, daß in einem Bericht über die Weltstadt Berlin dieses Thema nicht zu übergehen war, spricht für sich. Man blickt in einen Abgrund von Voreingenommenheit, Ablehnung - ja Haß - und geradezu krimineller Naivität angesichts eines Problems, das hinter einer Fassade der Normalität bereits alle Ingredienzien bereithält, die ein kleines Vierteljahrhundert später in einer antisemitischen Orgie als Staatmaxime explodieren wird. Der Autor leuchtet hinter die Kulissen der angeblichen bürgerlichen und gesetzlichen Gleichberechtigung der Juden in Deutschland, Preußen und Berlin und stellt wenig öffentliche Diskriminierung, aber überall Vorbehalte fest - wenngleich er auch glaubt, den Antisemitismus als politisch-parteiliche Bewegung für überwunden einschätzen zu können: Diese Fehleinschätzung, eine latente Geisteshaltung nur sehen zu wollen, wenn sie sich als Partei konstituiert, teilte er mit vielen Beobachtern im In- und Ausland - und sie spielt (leider!) auch in der politischen Gegenwart wieder einmal ihre Rolle. Allerdings ist Hurets Beschäftigung mit dem Thema als historische Quelle nicht ohne Reiz: Selbst ganz offenbar kein Antisemit, läßt er in seiner Blauäugigkeit auch Antisemiten zu Wort kommen, die den Finger auf jedem sichtbare Zustände legen, die weidlich agitatorisch ausgenutzt wurden, z. B. die unbestreitbare Präponderanz jüdischer Unternehmer in der Berliner Presse und im Berliner Kulturbetrieb. Zusätzlich begibt sich Huret noch auf ein besonders schlüpfriges Argumentationsfeld: Ohne Kommentar gibt er die in antisemitischen Kreisen Berlins verfestigte Ansicht wieder, daß alles, was herabsetzen, kritisieren, bespötteln, niederreißen müsse, praktisches Monopol jüdischer Betätigung sei (S. 359). Besonders abenteuerlich klingt in diesem Zusammenhang die ebenfalls unwidersprochen reflektierte These, daraus resultiere, daß Juden an der Spitze der neuen Moderne in der Malerei, die selbst die Berliner Sezessionisten herausfordere, stünden (S. 365) - gemeint war offenbar der Expressionismus. Nach der Erfahrung „Auschwitz“ könnte man heute nicht mehr so naiv kommentarlos daherschwätzen oder gar ein in der Luft liegendes Geschwätz im Interesse journalistischer Zuspitzung selbst formulieren. Ausgestorben ist diese Masche allerdings auch am Ende dieses Jahrhunderts nicht - nur hat sie inzwischen zum Antiislamismus gewechselt, für den das Berlin von 1907 noch keinen Boden abgab.

Leider hat sich der Verleger der verdienstvollen Neuausgabe von 1997 nicht dazu entschließen können, einen eklatanten, aber 1909 immerhin noch läßlichen Mangel für die jetzige Leserschar zu beseitigen: Dem Buch fehlt ein Personenregister!


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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