Eine Rezension von Herbert Schwenk


Kaleidoskop der Berliner Geschichte

Chronik Berlin

Chronik Verlag im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, 3., aktualisierte Auflage 1997, 656 S.

Die Liste der über Berlin geschriebenen Bücher ist bekanntlich sehr umfangreich. Darunter befinden sich manche Titel mit hohem Informationswert, opulenter Ausstattung und klarer sprachlicher Gestaltung. Aber es gibt nur wenige Werke der Berlin-Literatur, die diese Eigenschaften in sich vereinen. Der vorliegende Band kommt dem nahe. Mit seinen 212 Kalendarien, die über 3 000 Kurzinformationen zur Berliner Stadtgeschichte enthalten, kann sich das Werk mit der „Berlin-Chronik“ von Georg Holmsten messen, die seit 1984 als erste Chronik einen zusammenfassenden Überblick von den Anfängen der Berliner Stadtgeschichte bis 1990 (3. Auflage) gibt. Aber die vorliegende Chronik bietet mehr. Sie schreibt in der 3., aktualisierten - leider nicht überarbeiteten - Auflage Daten bis Ende 1996 fort und enthält neben den kalendarischen Kurzinformationen rund 1 700 Einzelartikel über wichtige Ereignisse der Berliner Geschichte. Hinzu kommen 17 ausführlichere Übersichtsartikel, in denen namhafte Historiker und Publizisten wie Werner Vogel, Helmut Börsch-Supan, Michael Erbe, Hans J. Reichhardt, Wolf Jobst Siedler sowie der ehemalige Bürgermeister Heinrich Albertz (1915-1993) Hauptlinien der Stadtgeschichte nachzeichnen. Das übersichtlich geordnete Geschehen wird von einer sehr guten Bildgestaltung begleitet, die mit der Kulturgeschichte in Bildern und Dokumenten (W. Schneider/W. Gottschalk, Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar, 1980) sowie der Illustrierten Chronik bis 1870 (R.Bauer, Dietz Verlag Berlin, 1988) vergleichbar ist.

Die vorliegende Chronik Berlin ist nach den Hauptperioden der Berlin-Geschichte übersichtlich in 17 Abschnitte gegliedert, die jeweils mit ihren Kalendarien, Kurzinformationen sowie dem entsprechenden Übersichtsartikel gleich strukturiert sind. Von den 17 Abschnitten umfassen drei die Zeit vor 1450, vier den Zeitraum von 1450 bis 1804, zwei die Jahre bis 1870, vier die Ära 1871 bis 1945 und schließlich nochmals vier die Berliner Nachkriegsgeschichte bis 1996. Nicht immer erscheinen allerdings die Zäsuren zwischen den einzelnen Abschnitten begründet, beispielsweise der Vorzug des Einschnitts 1449 gegenüber dem von 1411 oder der Vorzug der Einschnitte 1710 und 1850 gegenüber anderen üblichen. Gelungen ist die starke Betonung der Kultur- und Kunstgeschichte Berlins in Wort und Bild, vor allem jener Perioden, in denen Berlin bedeutende Beiträge zur Weltkultur leistete. So wird besonders ein plastisches Bild von der Zeit des Berliner Barock unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620-1688, Kfst. seit 1640) sowie seinem Sohn Kurfürst Friedrich III. (1657-1713), seit 1701 erster König in Preußen, wie auch vom kulturellen Aufblühen Berlins unter König Friedrich II. (1712-1786, Kg. seit 1740) gezeichnet.

So leserfreundlich die ausführlichen Personen- und Sachregister im Anhang sind, können sie doch eine Lücke der vorliegenden Chronik Berlin nicht verdecken: Der Wissenschaftler vermißt die Angabe der Quellen. Das Buch stützt sich auf eine Fülle von Dokumenten zur Geschichte Berlins, darunter manche mit Seltenheitswert. Nur: Was nützen dem interessierten Leser zum Beispiel die Rekonstruktionen historischer Stadtgrundrisse (etwa S.25, 26 und 51), wenn keine Quelle genannt wird? Ein übliches Verzeichnis der benutzten Berlin-Literatur fehlt der Chronik.

Über die Auswahl der rund 1700 Geschehnisse, die in Texten beschrieben werden, und deren Proportionen zueinander wird es je nach Standort, Ambition und Passion des Lesers sehr geteilte Meinungen geben. Obwohl sich die relevanten Hauptbereiche der Berliner Stadtgeschichte einigermaßen ausgewogen widerspiegeln, hätte ich mir gewünscht, daß die herausragenden Marksteine der städtebaulichen Entwicklung Berlins ihrer Bedeutung entsprechend noch stärker hervorgehoben würden, etwa die Stadterweiterung von 1861 (S. 223) oder die ältesten Stadtpläne Berlins, die eher im Schatten und nur in Mini-Abbildungen erscheinen. Dazu gehören der berühmte Memhardt-Plan von 1652 (S. 86), die großartige Perspektivansicht von J.B. Schultz von 1688 (S. 98) und der Dusableau-Plan von 1723/37 (S. 115); die Namen des Feldmessers G. Dusableau und/oder seines Kupferstechers G.P. Busch findet man auch im Personenregister nicht. Die Bedeutung des Memhardt-Planes wird nur etwa mit der Hälfte des Textumfangs gewürdigt, mit dem zum Beispiel der nicht unbedingt als epochal anzusehende „Knüppelkrieg“ von 1567 (S. 68) bedacht wird.

Und selbstverständlich hat auch in dieser wie in jeder Chronik der „Zeitgeist“ mehr oder weniger kräftig auf die Auswahl und Beschreibung der Geschehnisse abgefärbt. Besonders bei der Darstellung der Ost-West-Problematik in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird deutlich, daß und wie politische Sichten die Auswahl und Beschreibung der Geschehnisse beeinflußt haben. Zudem merkt man den Autoren der Chronik an, daß auch sie von der Vereinigung und dem Tempo, mit der sie vollzogen wurde, schlichtweg überrollt wurden. Der aufmerksame Leser, besonders aus der ehemaligen DDR, wird deshalb manches als merkwürdig empfinden. Liest er beispielsweise den Übersichtsartikel „Zwischen Ernüchterung und Aufbruch“ von Wolf Jobst Siedler über „Berlin in den 80er Jahren“ (S. 553/554), so scheint es, als habe es Ost-Berlin - von zwei Sätzen abgesehen - gar nicht gegeben. Der Leser findet zu seinem Erstaunen im gesamten Chronik-Werk keinen einzigen Hinweis darauf, daß sich Ost-Berlin um die drei Stadtbezirke Marzahn (1979), Hohenschönhausen (1985) und Hellersdorf (1986) erweiterte, die zusammen etwa ein Fünftel der östlichen Stadthälfte einnehmen! Während Marzahn, mit seiner Großsiedlung von 62135 Neubauwohnungen größte zusammenhängende Neubausiedlung Deutschlands, nicht einmal Erwähnung findet, tauchen die Namen der beiden anderen Stadtbezirke und Großsiedlungen Hohenschönhausen und Hellersdorf lediglich als mittelalterliche Dörfer auf, die 1375 im Landbuch Kaiser Karls IV. erwähnt sind.

Vergleicht der Leser das in der Chronik dokumentierte Geschehen nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Teilen Berlins, so fällt nicht nur die ausführlichere Darstellung vieler Ereignisse in Berlin-West auf, sondern auch die Distanz der Chronisten zu den im Osten vollbrachten Leistungen. Man gewinnt auch den Eindruck, daß es im Ostteil der Stadt keinerlei kulturelles Leben gegeben hat. Auch der Wohnungsbau und die Restaurierung historischer Bauwerke, unbeschadet der Fehlleistungen in Gestalt endgültiger Vernichtung von Resten deutscher Baukunst und historischer Bausubstanz (etwa des Stadtschlosses oder der Cöllner Petrikirche) sind deutlich unterrepräsentiert. So wird die Errichtung des Hansaviertels deutlich ausführlicher dokumentiert (S. 495) als der Aufbau der Stalinallee (S. 453). Bedeutende Architekten des Westteils der Stadt wie Hans Scharoun (1893-1972) und Werner Düttmann (1921-1983) werden zu Recht gewürdigt, bedeutende Architekten des Ostteils wie Hermann Henselmann (1905-1995) und Richard Paulick (1903-1979) bleiben jedoch ungerechterweise unerwähnt. Das Neubaugeschehen in Ost-Berlin erscheint nur am Rande (S.501, 534, 623). Immerhin wurden seit 1945 insgesamt 361231 Wohnungen fertiggestellt, und damit konnten 800000 Menschen (zwei Drittel der Einwohner Ost-Berlins) Neubauwohnungen beziehen. Auch die Wiederherstellung herausragender historischer Bauwerke im Osten Berlins erfolgt nur höchst selektiv in knappen Notizen (S. 488, 511, 565, 577, 636). Der distanzierte Chronik-Vermerk über ein „großangelegtes Restaurierungs- und Stadtverschönerungsprogramm, das den Ostteil Berlins zur 750-Jahr-Feier repräsentativ herausputzen soll“ (S. 577), wird dem Geleisteten nicht gerecht. Die Neuerrichtung des historischen Nikolaiviertels mit all seinen unbestritten diskussionswürdigen Problemen ist den Chronisten allerdings nur einen Satz wert (S. 577). Obwohl die Chronik Ereignisse bis 1996 erfaßt, bleiben die mit dem Berlin-Umzug des Parlaments- und Regierungssitzes verbundenen Vorgänge unerwähnt. Es wird lediglich der Bundestagsbeschluß von 1991 erläutert (S. 616), jedoch nichts über seine Realisierung bis Ende 1996 vermerkt.

Das alles vermag jedoch den nachhaltigen Eindruck, den das Buch hinterläßt, nicht gravierend zu trüben. Es ist ein lehrreiches und schönes Buch zugleich, wenn auch der verkündete Anspruch einer „lückenlosen“ Dokumentation angesichts erwähnter Lücken ein wenig übertrieben erscheint.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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