Eine Rezension von Bernd Grabowski
Irreführung ahnungsloser Touristen
Berlin für junge Leute
Herden Studienreisen, Berlin 1998, 202 S.
Für Jugendliche muß man so schreiben wie für Erwachsene, nur besser. Die - leicht abgewandelte - Maxime von Ludwig Renn wollte der Schriftsteller natürlich für Belletristik wie für Sachbücher verstanden wissen. Die Autoren und Bearbeiter des vorliegenden Berlinführers - immerhin 15 an der Zahl - haben das Gegenteil auf ihre Fahnen geschrieben. Zumindest kommt solche Vermutung auf, wenn man ihr nachlässig und fehlerhaft geschriebenes Taschenbuch aufmerksam liest.
Das beginnt bei dem die Toleranzgrenze überschreitenden Maß an falscher Interpunktion und orthographischen Fehlern, vielfach auch bei Straßennamen und Institutionen sowohl im Text wie in den beigegebenen Skizzen aus dem Stadtplan. Es endet nicht bei den uneinheitlichen, unvollkommenen, unrichtigen Angaben zu jenen Adressen, die für Jugendliche besonders interessant sind.
So mutet es manchmal an, als wäre man bei der Auswahl der aufgeführten Verkehrsverbindungen nach dem Zufallsprinzip verfahren, wobei die Straßenbahnlinien meist ganz verschwiegen werden. So werden beim Stichwort Metropol-Theater jegliche Bus- und Tram-Haltestellen geleugnet, während für das im gleichen Gebäudekomplex befindliche Kabarett Distel immerhin von mehreren in der Nähe vorbeiführenden Bus- und Straßenbahnlinien je eine verraten wird. Aber auch Haus- und Telefonnummern sind nicht immer zuverlässig. Bei der Zuordnung der Adressen - Kulturstätten, Architekturdenkmäler, Szenekneipen, Buchhandlungen, Boutiquen, Märkte, Frisöre, Kaufhäuser, Herbergen - zu den einzelnen Verwaltungsbezirken tauchen plötzlich Stadtteilnamen wie Dahlem oder Karlshorst auf, oder die Gedenkstätten Berliner Mauer und Deutscher Widerstand werden von Mitte nach Wedding bzw. von Tiergarten nach Schöneberg verlegt. Und wer die Humboldt-Universität sucht, wird nicht etwa zum Hauptgebäude Unter den Linden oder zum Sitz von einzelnen Fakultäten und Instituten geführt, sondern zur Ziegelstraße, wo lediglich nachgeordnete Verwaltungen tätig sind.
Offensichtlich haben die Bearbeiter nicht ihr einleitendes Kapitel gelesen, in dem die Linden - die wichtigste Straße von Berlin - ausgewiesen sind als Adresse für die Humboldt-Uni. Allerdings wird diese Anschrift zugleich auch für die an der Behrenstraße gelegene Hedwigs-Kathedrale beansprucht.
Die gleiche kritikwürdige Qualität wie der Adressenteil und übrigens ebenso der Index - die angegebenen Seitenzahlen verzeichnen nicht alle Erwähnungen - weisen also auch die beschreibenden Abschnitte dieses Buches auf. So glauben die Autoren, daß der Zweite Weltkrieg schon am 30. April 1945 zu Ende gegangen sei, und zwar mit der Erstürmung des Reichstagsgebäudes. Daß aber Berlin erst am 2. Mai, Deutschland am 8. Mai und Japan erst am 2. September 1945 kapitulierten und damit die Kampfhandlungen einstellten, scheinen sie vielleicht nicht zu wissen. Doch wider besseres Wissen behaupten sie, der Kalte Krieg habe erst mit dem Ende der Berlin-Blockade begonnen. Doch diese Blockade, wofür sie Hintergründe, Ursachen und Anlaß verschweigen, werten sie bereits richtig als einen Konflikt zwischen der Sowjetunion unter Stalin und den Westmächten. Die Sektorenaufgliederung Berlins 1945 und die politische Spaltung der Stadt 1948 ignorierend, will das Buch dem (jugendlichen) Leser einreden, daß erst nach der Blockade Mitte 1949 Berlin in sowjetische und westliche Machtbereiche geteilt worden sei. Das sei zudem auch das Datum für den Beginn der stalinistischen Diktatur in Ostdeutschland - wie dann aber in dieser Hinsicht die Jahre 1945-1949 zu bewerten sind, lassen die Autoren offen.
Was ist nun von dieser Diktatur bis heute noch geblieben? Das Buch gibt Auskunft und nennt steinerne Zeugen. Im Stadtbild könnt ihr folgende Spuren der ostdeutschen Diktatur finden: die ehemalige Stalinallee ..., das Haus des Lehrers ..., das Staatsratsgebäude ... mit dem Palast der Republik und die ehemals sowjetische, heute russische Botschaft. Was gerade diese fünf Objekte in der Millionenstadt mit jener Diktatur verbindet, bleibt ebenso ein Geheimnis wie das angewandte Auswahlprinzip.
Manches Stück Berlin-Geschichte scheinen die Autoren schlicht verschlafen zu haben. So, wenn sie meinen, das Reichstagsgebäude, in dem am 3. Oktober 1990 der Bundestag die an jenem Tag vollzogene Einheit Deutschlands feierte und wo am 20. Dezember 1990 das Parlament nach den ersten gesamtdeutschen Wahlen zusammentrat, werde 1999 erstmals als Bundestag fungieren. Jahrzehnte haben sie sogar verschlafen, wenn sie behaupten, der Regierende Bürgermeister sei 1991 wieder ins Rote Rathaus gezogen und der Bundespräsident residiere im Schloß Bellevue erst seit einiger Zeit.
Übrigens handelt es sich bei dem Berlin-Buch, wie im Impressum ausgewiesen, um eine Übersetzung. Aus welcher Sprache? Man kann nur vermuten, daß die Manuskripte in Deutsch verfaßt wurden. Dann erfolgte die Übersetzung in die neue deutsche Rechtschreibung. Die Übersetzerin hat dem Schloß Bellevue zwar weiterhin das angestammte ß zugebilligt, aber nicht dem Schloß Charlottenburg. Die Schloßstraße, die amtlich immer noch so heißt, wurde mal kühn zur Schlossstraße umbenannt und blieb mal konservativ Schloßstraße. Und die vielen Schreibschludereien, die weder der neuen noch der alten Orthographie entsprechen, hat die deutsch-deutsche Dolmetscherin unbeachtet gelassen.
Statt eine Übersetzerin ins Neudeutsche zu bemühen, hätte der Herausgeber besser einen Korrektor und vor allem sorgfältig recherchierende und verantwortungsbewußt schreibende Berlin-Experten als Verfasser für sein Handbuch gewinnen sollen. Denn in der vorliegenden Form ist es nur bedingt hilfreich, teilweise stellt es eine Irreführung ahnungsloser Touristen dar.