Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold
Euer Ehren im Walde
Rosemary Aubert: Falsche Versprechen
Aus dem Amerikanischen von Heinz Zwack.
Econ Taschenbuch Verlag, München 1998, 374 S.
Das Original der kanadischen Autorin - sie ist im Hauptberuf Kriminologin offenbar an der staatlichen Universität Toronto - kam 1997 in New York heraus. Der erste Roman Rosemary Auberts, nach mehreren Kriminalgeschichten, hat in Nordamerika Aufsehen erregt. Econ war gut beraten, ihn nach einer vorzüglichen Übersetzung rasch zu veröffentlichen. Er bereichert die anspruchsvolle kriminelle Literatur, die sich dadurch auszeichnet, daß menschliche Schicksale im Spannungsfeld von selbstbestimmtem Handeln, Zufällen und gesellschaftlich bedingten äußeren Einflüssen nacherlebbar dargestellt werden, also nicht Crime and Sex und eine mehr oder minder komplizierte Aufklärung beherrschend sind, versetzt mit aufhaltsamen Nebenhandlungen, um Spannung zu erzeugen und den Text zu verlängern.
In der ungekünstelten Ich-Erzählung erfährt man mit rasch wachsender Anteilnahme, wie ein erfolgreicher Anwalt und dann hoch angesehener Richter in der Millionenstadt Toronto zum Aussteiger geworden ist. Er kam fast ins Gefängnis und landete zeitweise in der Psychiatrie. Nun haust er mittellos in einem Flußtal nahe der Stadt, ein paar Bretter über dem Kopf zum Schutz vor Wind und Wetter, den Tieren des Waldes vertrauter als den Menschen.
Allmählich, in wie zufällig eingestreuten Rückblenden, werden die Kindheit, das Verhältnis zu Vater und Mutter und zu Freunden aus dem Gedächtnis des Erzählers hervorgeholt, wird die schon Jahre zurückliegende Zeit mit der eigenen Familie angedeutet, mit der Frau und besonders mit der Tochter, die er nicht vergessen will und doch fast schon vergessen hat. Einige Erinnerungen sind quälend, vor allem an den kaum beherrschbaren, immer wieder aufflammenden Jähzorn und seine Folgen, aber auch an die unerfüllte Liebe zu einer schönen und juristisch brillanten Kommilitonin, einzige Frau in einem kleinen Kreis von Freunden, die einst gemeinsam die Anwaltsweihen errangen. Mit anschaulichen, genau bedachten Details schildert der ehemalige Richter sein primitives Leben im Wald, die seltenen Kontakte zu Unterprivilegierten, die er bei der Nahrungsuche oder in der Armenküche trifft. Sie behandeln ihn fast wie ihresgleichen, sprechen ihn mit du und Euer Ehren an.
Wir lesen eine Lebensgeschichte in Skizzen. Schlaglichtartig tauchen einzelne Stationen, Erfahrungen, Erkenntnisse auf. Sie fügen sich zum Lebenslauf des Angelo Portalese zusammen, ehrgeiziges Kind armer italienischer Einwanderer. Nach Abschluß seines Studiums hat er sich Ellis Portal genannt, seine Herkunft verleugnend. Erstaunlich, wie die Autorin sich in die Psyche des fünfzehnjährigen Angelo ebenso wie in die Denkweise des ausgestiegenen Richters Ellis versetzt, der nun in den Fünfzigern ist.
Dieses Buch hat keine falschen Töne, bietet keine aufgesetzten Mätzchen. Nichts von dem, was mitgeteilt wird, ist überflüssig. Die Worte sitzen genau da, wo sie hingehören. Wir genießen gute Literatur, wenn wir lesen, wie Richter Portal sich an einen Freund erinnert: Sein Gesicht mit den ausgeprägten Zügen würde einmal schroff werden, sobald die Zeit es näher an die Knochen zog.
Es versteht sich, daß wir nur ganz allmählich in ein dunkles Geheimnis eingeweiht werden, das teils menschliche Tragik, teils scheinbares Verbrechen, teils tatsächliches kriminelles Handeln birgt. Soll damit der ebenso moderne wie alberne Untertitel Mystery gerechtfertigt sein? Aber die Geschichte enthält nichts Unerklärliches. Es gibt lediglich den legitimen schriftstellerischen Kunstgriff, das Unerklärte zum Schluß aufzudecken. Rosemary Aubert jedenfalls beherrscht die Kunst, den Leser erst sehr spät mit der Antwort auf einige Fragen zu überraschen, die er sich auch bei leidlicher Intelligenz nicht selbst beantworten kann. Raten hilft hier nicht weiter, Phantasie schon eher.
Das Buch vereint Elemente des klassischen Romans, der sozialpsychologischen Studie und des Kriminalromans in einer ebenso anspruchsvollen wie lesbaren Weise. Es erhebt sich deutlich über das Mittelmaß gängiger Unterhaltungsliteratur. Rosemary Aubert sollte mehr dergleichen von sich lesen lassen.