Eine Rezension von Walfried Hartinger


„im Lichte unserer Erfahrung“

Helgard Rost/Thorsten Ahrend (Hrsg.): Der heimliche Grund

69 Stimmen aus Sachsen.

Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1996

Der Titel des Bandes, von Volker Braun ausgeborgt, ist beziehungsreich: Meint der „heimliche Grund“, daß dieser oft verschwiegen, jedenfalls als Grund des Schreibens nicht benannt wird; assoziiert er zugleich das „Nicht-Heimliche“, das dem Leben und Dichten zugrunde liegt, evoziert er, im Braunschen Sinn, auch den „überwachsenen Abgrund“? Immer aber bedeutet er hier, komplettiert mit dem Untertitel „69 Stimmen aus Sachsen“, das Bekenntnis zu regionaler, kulturlandschaftlicher Verwurzelung. Sich zu regionaler Verhaftung, Prägung, zu regionalem Lebensbereich, regionaler Zugehörigkeit zu äußern, eben auch zu bekennen, scheint mir gegenwärtig ein landläufiger Trend zu sein. Ein Trend, der offensichtlich auch politisch gefördert wird oder überhaupt erst von der Politik, jedenfalls in den neuen Bundesländern, stimuliert wurde. Geht solche Politik doch davon aus, daß in der DDR solcher Bezug auf regionale Zugehörigkeit im Sinne einer bewußt ausgestellten Differenzierung unerwünscht war. Übersehen wird, daß eine erwünschte Einheitskonzeption immer wieder unterlaufen wurde. Selbst nach Aufhebung der Länder in den fünfziger Jahren hatte sich in der DDR Regionalbewußtsein manifestiert: im Alltags-Verhalten, in der künstlerischen Verarbeitung - in Lene-VoigtProgrammen des Kabaretts, in Publikationen (wie in der verdienstvollen Anthologie Weinmond im Meißner Land. Literarische Streifzüge durch Sachsen, hrsg. von Hans-Peter Lühr und Hasso Mager, Mitteldeutscher Verlag 1989). In dieser Anthologie hieß es im Waschzettel: „93 Texte von Autoren unterschiedlichster Prägung wurden in diesem Buch versammelt, um ein Bild der weitgespannten sächsischen Kulturgeschichte zu assoziieren. Ein literarischer Streifzug vom Mittelalter bis zur Gegenwart, der von landschaftlicher Schönheit und künstlerischer Leistung erzählt, aber auch von tragischen Momenten und manchen Eigentümlichkeiten des Landes.“ Der jetzt veröffentlichte Band - eben unter dem beziehungsreichen Titel Der heimliche Grund- vereint (so der Untertitel) „69 Stimmen aus Sachsen“. Nicht der historische, kulturgeschichtliche Überblick wird angestrebt, sondern ein „Durchblick“: Zeitgenossen äußern sich 1996 zu einer Region, und zwar - das kann Mitte der neunziger Jahre nicht anders sein - im Bewußtsein einer erlebten, erfahrenen zeitgeschichtlichen Wende.

Diese Ereignisse werden in manchen Texten direkt thematisiert, in anderen bilden sie den Hintergrund der Reflexion. Immer aber fällt der geschärfte, vielfach irritierte Blick der Autoren auf einen Raum, der geschichtsträchtig, vielfach durchgearbeitet ist, sich in vielem als neuer stellt, vielleicht gerade deshalb wieder im Mikrokosmos als Makrokosmos erhellt werden könnte.

Einiges von solcher Zwischenstellung des abgesteckten Raumes (zwischen Tradition, geschichtlicher Prüfung; ungesicherter Alltags-Gegenwart und offen problematischer Zukunft) vermittelt der Band. Die Herausgeber, Helgard Rost und Thorsten Ahrend (im Auftrag des Literaturbüros Leipzig e. V.), haben die von Autoren zugesandten, ausgewählten, abgeforderten Beiträge (ich weiß nicht, wie der Band zustande gekommen ist) so arrangiert, daß immer „im Lichte unserer Erfahrung“ der Rückblick, die Erinnerung an die Zeit um 1945 (im ersten Teil gesammelt unter den Versen: „die brotsuppe auf dem tisch / die kirschen hinterm zaun), die Verarbeitung der Wende-Erlebnisse im Zeichen von unauslöschlicher Vergangenheit, problematischer DDR-Geschichte, zu bewältigender Gegenwart (im zweiten Kapitel versammelt unter dem Motto: „an der tür wo man visa verkaufte / steht keine schlange mehr“), die offenen Probleme der Zukunft (im dritten Teil, unter den so charakteristischen Zeilen: „... bis nur noch das Gehen versprach / eine Ankunft zu sein“ zusammengestellt) konzentriert vorgestellt werden können.

So kann der Leser im ersten Teil den verschiedenen Formen und Methoden der Erinnerungsarbeit von Autoren begegnen, auch der den Schriftstellern eigenen Problematisierung im Heraufholen von Vergangenheit (z. B. in Texten von Wulf Kirsten, Horst Drescher, Reinhard Bernhof, Fritz-Rudolf Fries).

Im zweiten Teil sieht sich der Leser vorrangig Texten ausgesetzt, die einen zeitgeschichtlichen Bogen schlagen von weiter Vergangenheit, naheliegender kritisch betrachteter DDR-Geschichte bis zu einer zu bewältigenden Zukunft (in Texten von Volker Braun, Bernd Jentzsch, Peter Gosse, Ralph Grüneberger, Uta Mauersberger, Heinz Czechowski beispielsweise).

Im dritten Teil werden für den Leser Verunsicherungen eines Lebens in den neuen Bundesländern vergegenständlicht - ein Nachdenken über Sachsen bedeutet zugleich ein Nachdenken über Deutschland, über neue Zustände, über Un-Wirklichkeiten (z. B. in Arbeiten von Durs Grünbein, Kerstin Hensel, Thomas Böhme, Kurt Drawert, Marion Titze, Thomas Rosenlöcher), weshalb dann - das betrifft den ganzen Band - neben einer realistischen Darstellung immer auch phantastische Gegenwelten in den Texten aufscheinen.

Insofern wird das Buch im geistigen Diskurs der Gegenwart seinen Platz haben, zumal neben arrivierten Autoren auch solche Aufnahme finden, die sich ihres eigenen literarischen Angebots erst vergewissern müssen (z. B. Tom Pohlmann, Undine Materni, Andreas Altmann); zumal verschiedene Textsorten (Gedicht, Bericht, Essay, Erzählung) unterschied-lichen Interessenlagen der Leser entgegenkommen.

Der Band ist eine Anthologie - ein versammeltes Ensemble von Stimmen zu einem Gegenstand (dem sächsischen Raum), aber nicht zu einem Thema. Im Gegenteil: Themenvielfalt überspannt den avisierten Raum und verhindert so möglichen Provinzialismus. Sie zeigt indes an, welchen Wert Grunderfahrungen haben und wie diese unterschiedlich verarbeitet werden. Solche Einsicht bedient indes mehr literaturwissenschaftliches Interesse. Für den geneigten Leser dieser Anthologie könnten indes einige Fragen offenbleiben.

Die eine: Hört er eine Vielfalt von Stimmen, überlegt er denn doch, ob wirklich jede Stimme etwas zum Auswahl-Aspekt zu sagen hat (haben manche Autoren, wie z. B. Thomas Kunst, ihre Grunderfahrungen wohl doch in einem anderen Roman gemacht).

Die zweite: In der Neugier auf das große Ensemble muß er wichtige Stimmen vermissen, die die sächsische Region zum Klingen gebracht haben - der Leser vermißt Texte der Sorben Jurij Brezan, Kito Lorenc, Benedikt Dyrlich; Arbeiten von Karl Mickel, Rainer Kirsch, Erich Loest, Wolfgang Eckert, Bernd Schirmer, Rainer Klis beispielsweise.

Die dritte: Der Leser weiß wohl nicht so recht, wie er dem Band überhaupt begegnen sollte. Als „Geschichtsbuch“ ist er nicht zu studieren, als „Erbauungsbuch“ mitnichten, als „Welterklärungsbuch“ wohl auch nicht, als „Landesbibel“ keineswegs. Er bleibt, wie der Nachwort-Autor Peter Geist feststellt, ein „Stöberbuch“. Daran wird nicht jeder Gefallen finden.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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