Eine Rezension von Gudrun Schmidt
Ich war ein gutgläubiger Narr
Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts (Tagebücher 1955-1963)
Aufbau-Verlag , Berlin 1997, 428 S.,
dies.: Alles schmeckt nach Abschied (Tagebücher 1964-1970)
Herausgegeben von Angela Drescher.
Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 463 S.
In diesem Sommer wäre Brigitte Reimann 65 geworden. Schwer vorstellbar, die attraktive Frau mit grau gewordenem Haar, statt lebhafter Gesten, impulsiver Rede nun verhaltener, in sich ruhend, altersweise gar. Oder träfe eher dieses Bild zu, das sie launig am Neujahrstag 1966 ihrem Tagebuch anvertraut. Manchmal malen wir uns aus, wie wir alte Leute sein werden - wir werden Kognac trinken und Zigarren rauchen und vor einem Kamin sitzen und boshafte Geschichten erzählen, zwei kinderlose giftige Alte. Zu dieser Zeit ist Brigitte Reimann schon eine anerkannte Schriftstellerin, lebt in Hoyerswerda, hat nach zwei gescheiterten Ehen ihre große Liebe gefunden, mit der sie alt werden wollte. Doch die Liebe hält nicht, und alt zu werden war ihr nicht vergönnt. Brigitte Reimann ist, als sie stirbt, knapp vierzig Jahre.
Ein Vierteljahrhundert nach ihrem Tod sind ihre Tagebücher Ich bedaure nichts aus den Jahren 1955-1963 und Alles schmeckt nach Abschied, eine Auswahl des Zeitraums 1964-1970, erschienen. Brigitte Reimann war eine eifrige Tagebuchschreiberin. Von Jugend an. Ich muß davon schreiben. Ich brauche die Mitteilung, bekannte sie. Hier schrieb sie sich ihre Zweifel, Ängste von der Seele, war rückhaltlos offen, beichtete ihre Affären, schuf sensible Augenblicks-Stimmungen über Ereignisse und Leute, speicherte Charaktere, erzählte Alltagsgeschichten. Für die Öffentlichkeit waren diese zum Teil sehr privaten Notizen wohl kaum bestimmt. Die frühen Notizen hat sie selbst vernichtet, und über die letzte Lebensetappe, bis 1973, sind keine Aufzeichnungen erhalten. Neben ihren Tagebüchern führte sie eine Kladde, eine Chronik offizieller Ereignisse, sammelte dazu Fakten, Zeitungssausschnitte, archivierte. Solche Recherchen gehörten für sie zur Arbeitsmethode.
Liest man ihre Tagebücher, scheints, Brigitte Reimann hat mehrere Leben gelebt. Das eigene - intensiv und mit hohem Anspruch an sich und andere, kompromißlos und verletzbar, zwischen Glückseuphorie und Verzweiflung, Ankunft und immerwährendem Aufbruch. Und sie lebte in und mit ihren Helden. Ich weiß nicht, wann ich wahrhaftig ich selbst bin, am Schreibtisch oder sonst. Ich frage mich, ob all meine Kraft und meinen Mut die auf einem Blatt Papier geschaffenen Menschen fressen oder ob ich gar keine Kraft und keinen Mut habe und sie gerade deshalb meinen Gestalten gebe, bekennt sie als Neunundzwanzigjährige. An persönlichem Mut, Lebensmut, Charakter hat es ihr nicht gefehlt. Aufgegeben hat sie nie. Irgendwie hat sie es immer wieder geschafft, mit Niederlagen, Katastrophen fertig zu werden. Ein Eintrag vom 8. September 1969, nachdem sie vom Treuebruch ihres Mannes erfahren hat: Oh nein, ich bin mir durchaus noch nicht so sicher, wie ich vor anderen und vor mir selbst tue. Eine Art Trotz vermutlich, oder sowas wie Stolz - jedenfalls keine Träne in Gegenwart anderer; ich lasse mir nichts anmerken, bin geradezu munter, tagsüber also, unter Menschen. Nachts ist es noch arg, ich kann nicht schlafen, obgleich ich mich mit Schlaftabletten vollstopfe ... Nun, ich bin noch nicht ausgezählt, obgleich ich diesmal zu Boden gegangen bin wie noch nie ... Und nicht zuletzt versucht sie schreibend, ihren Schmerz zu verwinden. Die Große Liebe ist kaputt, ich sitze in einer fremden Stadt, ziemlich allein ... Und ich bin nicht mehr jung, ich bin eine Amazone ... Herrgott, und dieses Buch! Ich darf nicht drin blättern. Immer die Liebeserklärungen für ihn, für ihn, den Geliebten - oder das Bild von ihm. Das wird ein hartes Stück Arbeit, über soviel Persönliches hinwegzukommen und eben ein Buch zu schreiben. Immerhin habe ich in dieser Woche aus meiner Verzweiflung zwei Seiten anständiger Prosa gemacht. Unglaubhaft, wie man sowas zustande bringt.
Die Rede ist von Franziska Linkerhand, ihrem großen Roman. Von 1965 bis zu ihrem Tode hat sie daran gearbeitet. Vollenden konnte sie ihn nicht mehr. Es ist die Geschichte einer jungen, begabten Architektin, die nach dem Studium mit hohen Erwartungen in die Praxis geht und versucht, ihren Traum von einer neuen, modernen Stadt, die den Menschen Geborgenheit gibt, zu realisieren, und deren Ideale in Konflikt mit der Wirklichkeit geraten, an geistiger Enge, Borniertheit, der Macht der Gewohnheit zu scheitern drohen. Und es ist vor allem auch ein Buch vom Emanzipationsstreben einer Frau, Erfüllung, Selbstverwirklichung im Beruf und im Privaten, in der Liebe zu finden. Was bleibt von den kühnen Träumen, den Entwürfen der Jugend, wenn sie der Prüfung durch das Leben mit seinen Alltagssorgen unterzogen werden? eine Frage, die Brigitte Reimann umtreibt und die sie bohrend an die Leser weitergibt.
Vom Schreiben am Franziska-Buch handeln viele Eintragungen. Dennoch sind diese Tagebücher kein Brevier über die Arbeit eines Schriftstellers. Sicher wäre auch das reizvoll, würde aber wohl kaum das nichtnachlassende Interesse der Leser an beiden Tagebuch-Bänden erklären. Zum einen zeichnen sie ein sehr persönliches Bild der Autorin, und zugleich sind sie ein einzigartiges Zeitdokument, Lebensstoff in Fülle. Die Generation der heute Fünfzigjährigen und darüber hat mit den Büchern der Reimann gelebt, sie spiegelten ihre Welt, ihre Lebens- und Wertvorstellungen, ihre Wirklichkeitserfahrungen sind denen der literarischen Helden vergleichbar. Nun, da alles anders geworden ist, können die Tagebücher in der Rückschau wieder hilfreich sein in der Suche nach Identität, in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Die nachgewachsene Generation, für die die DDR längst Geschichte ist, wird hier mehr über die Befindlichkeit der Leute in diesem gescheiterten Land erfahren können als in manch opulenter Zeit-Dokumentation.
1960 war Brigitte Reimann mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann, nach Hoyerswerda gezogen. Sie war neugierig auf Neues, interessiert am Zeitgeschehen, wollte dabeisein, wo Neues entstand. Sie ging zu den Arbeitern vor Ort, engagierte sich für das im Entstehen begriffene Kombinat Schwarze Pumpe und den Aufbau der Stadt Hoyerswerda, wurde in Kommissionen gewählt, u.a. in die Jugendkommission des ZK und in den Vorstand des Schriftstellerverbandes. Sie fühlt sich mit diesem Land verbunden und gerät zunehmend in Distanz zu ihm. Nach dem ersten Überschwang folgt die Ernüchterung, als sie spürt, wie unter dem Aspekt der ,historischen Wahrheit die Wirklichkeit umgebogen wird. Ihre scharfe Beobachtungsgabe gerät immer mehr in Widerstreit mit dem verdammten inneren Zensor, den man uns so geschickt eingebaut hat ... Rücksichten um der Sache willen. Sie fühlt sich immer mehr entfremdet dem Staat, der uns früher soviel bedeutete. Heute ist seine Autorität dahin und unsere Hoffnungen. Wir haben uns früher mal Freiheit, Gleicheit und Brüderlichkeit vesprochen. Schmonzes. Man verdient Geld, je mehr desto besser, und sieht zu, daß man ein angenehmes Leben hat und mit dem Rücken an die Wand kommt. Mit dieser geistigen Trägheit, mit diesem Egoismus und dieser Heuchelei kann und will sie sich nicht abfinden. Das 11. ZK-Plenum 1965 mit seiner vernichtenden Kritik an den Künstlern macht alle Hoffnungen auf eine offene, problembewußte geistige Atmosphäre zunichte. Sie ahnt: Wir gehen einer Eiszeit entgegen. Überall herrscht Konfusion, die Stücke und Bücher werden jetzt en masse sterben. Wer will noch Verantwortung übernehmen? Die Zügel werden wieder straffer gezogen ... Mein Land gefällt mir immer weniger.
Wie eisig die Atmosphäre geworden ist, bekommt sie selbst zu spüren, als die NDL einen zugesagten Abdruck einiger Kapitel aus Franziska Linkerhand ablehnt, weil sie zu problematisch sind. Wofür ist die Literatur denn zuständig, wenn nicht für Probleme? Ein widerliches Land. Aber sie bleibt unbequem, zieht sich das Mißtrauen und die Ablehnung der Parteioberen im Bezirk Cottbus zu, wird gar verdächtigt, das Haupt einer Untergrundbewegung unter den Künstlern zu sein. Es gibt Augenblicke, in denen ich das Gefühl habe, der Hals werde mir zugedrückt. Was kann man tun? Ich schreibe vom Menschen, vom Menschlichwerden. Manchmal bin ich schwächer als meine Helden (ach, Helden! - Empfinden von Ohnmacht). Als sie im November 1968 für eine Neuausgabe ihre frühen Erzählungen Die Frau am Pranger, Das Geständnis und Die Geschwister durchsieht, geht sie mit sich hart ins Gericht und kommt zu der bitteren Erkenntnis: Finde schrecklich, was ich da früher geschrieben habe, sprachlich und politisch. Ich war ein gutgläubiger Narr. Die Ereignisse in der CSSR haben endgültig alle Hoffnungen auf eine neue Gesellschaft zerstört.
Ihre letzten Lebensjahre, überschattet von der Krebserkrankung, hat Brigitte Reimann in Neubrandenburg verbracht. Noch einmal findet sie privates Glück in einer vierten Ehe. Die Stadt, das Mecklenburger Land tun ihr gut. Mit großer Willensstärke gegen die Krankheit ankämpfend, schreibt sie weiter an Franziska Linkerhand. Das Festhalten am Buch war auch ein Festhalten am Leben. Den Kampf gegen den Tod konnte sie nicht gewinnen. Doch mit ihrer Franziska hat sie Bleibendes hinterlassen. Als der unvollendet gebliebene Roman 1974 in einer leicht gekürzten Fassung im Verlag Neues Leben erschien, war die Resonanz bei Lesern und Kritikern überwältigend. Jetzt legt der Aufbau-Verlag die Urfassung vor, wie sie die Autorin hinterlassen hat. Im Neubrandenburger Literaturzentrum wird ihr Nachlaß sorgsam gepflegt, und zum 65. Geburtstag wurde der Grundstein zu einem Literaturhaus gelegt, das ihren Namen trägt. Vergessen war sie nie.