Eine Rezension von Michael Dingel


Der sanfte Riese

Davis Miller: Das Geheimnis des Muhammad Ali. Eine wahre Geschichte

Aus dem Englischen von Ruslau Tulburg.

Sportverlag, Berlin 1998, 286 S., 16 S. Schwarzweißfotos

Am 10. Februar 1990 wird der Weltmeister im Schwergewicht, Mike Tyson, seinen Titel gegen den Herausforderer James Douglas verteidigen. Daran zweifelte kaum jemand, denn Tyson galt als unschlagbar. Doch zwei Wochen vor dem Boxkampf erschien in der Illustrierten „Sport“ ein Artikel unter der Überschrift „Wie schlägt man Mike Tyson?“ - geschrieben von Davis Miller, dem Autor der vorliegenden „wahren Geschichte“ über Muhammad Ali, der unter dem Namen Cassius Clay 1960 ins internationale Rampenlicht trat.

Die Sensation geschah, Tyson verlor durch k. o. Davis Miller, am Anfang einer journalistischen und schriftstellerischen Karriere stehend, ist dank seines Gespürs urplötzlich ein gefragter Autor! Auf seinem Anrufbeantworter sind Nachrichten aus allen Teilen der USA angekommen. Auch - und nur - eine Frage desjenigen, um den es in dieser Geschichte neben Miller geht: „Werden die immer noch Tyson mit mir vergleichen?“

„... Für mich gab es eine Zeit, in der mein Traum Wirklichkeit wurde. Und der Traum hat den Namen Muhammad Ali. Dies ist die Geschichte über die Zeit, die ich mit diesem Traum verbrachte ...“ Diese Worte gibt Miller den Lesern auf den Weg. Und die erfahren und begreifen, weshalb jener so ganz der faszinierenden Persönlichkeit Alis erliegt, des „größten Sportlers des Jahrhunderts“ und wunderbaren Menschen.

Davis war zwölf Jahre alt, als seine Mutter an einer seltenen Nierenkrankheit starb. „Daddy pflegte meiner Schwester und mir zu sagen: ,Sie war eine von denen, die ein bißchen zu gut für diese Welt sind.‘“ Der Junge wollte nicht mehr essen und trinken, mußte deshalb im Krankenhaus künstlich ernährt werden. Auch die Schule interessierte ihn nun nicht mehr. Die Stubenfliegen, die auf seinem Pult landeten, hielt Davis für Engel. „Ich sprach mit den Fliegen, fragte sie, wie es meiner Mutter gehe. Die Engel antworteten nicht.“

Nach etwa vier Monaten hat er den Verlust so weit überwunden, daß er sein zweites Leben beginnen konnte, welches er Comic-Helden verdankte. Und Cassius Clay trat auf. Im Fernsehen verfolgte Davis, wie sich der Zweiundzwanzigjährige auf die Auseinandersetzung mit dem Weltmeister Sonny Liston vorbereitete. Seit dieser Zeit sind viele der Ereignisse, die sein Leben bestimmt haben, mit Ali verbunden.

Körperlich zurückgeblieben, hatte er sich häufig der Hänseleien seiner Mitschüler zu erwehren - „Fötus“ nannten sie ihn. Er beschloß, „der größte Kampfsportkünstler zu werden, den die Welt je gesehen hat“. Im Kickboxen versuchte er den Stil seines großen Vorbildes zu kopieren.

Mit zweiundzwanzig Jahren durfte Davis im Sparring gegen Ali antreten. Das war seine erste Begegnung mit dem Champ, die Tausenden vor und nach ihm auch vergönnt war. Die Geschichte darüber verkaufte er an das Magazin „Sports Illustrated“, verließ das College und träumte nun davon, der größte Schriftsteller zu werden - wie sein Idol schätzte er Untertreibungen überhaupt nicht. Ehe er in dem Beruf Fuß fassen konnte, war er gezwungen, Teilzeitjobs anzunehmen. Darüber drohte seine Ehe, aus der zwei Kinder hervorgegangen sind, zu zerbrechen.

Im Herbst 1987 beförderte ihn das Videounternehmen, bei dem er angestellt war, zum Regionalmanager und versetzte ihn nach Louisville, Kentucky, wo Ali geboren und aufgewachsen war und seine Mutter noch lebte. Als Miller am Karfreitag ein Wohnmobil vor dem Haus von Alis Mutter stehen sah, nahm er seinen ganzen Mut zusammen. „Champ, Sie haben mein Leben verändert. Als Kind war ich verklemmt, konnte nicht einmal mit anderen sprechen. Das war kein Leben ... Sie gaben mir den Glauben, daß ich alles könnte.“ Worte eines Weißen, die eine Vorstellung davon vermitteln, wie groß Alis Einfluß auf die Schwarzen in dem Riesenland gewesen ist, die in den sechziger Jahren im Süden noch hart unter der Rassentrennung zu leiden hatten. Seine in Rom errungene olympische Goldmedaille warf der Boxer in den Ohio, nachdem man ihm verboten hatte, in einem Restaurant für Weiße zu speisen. Seine Weigerung, in den Vietnamkrieg zu ziehen - „Kein Vietcong hat mich je Nigger genannt!“ -, brachte ihm erbitterte Feindschaft, Gefängnishaft und die Aberkennung seines Weltmeistertitels, aber auch eine Vielzahl von Freunden auf allen Kontinenten ein. Und seit diesem Karfreitag darf sich auch Miller zu den persönlichen Freunden Alis zählen. Es bleibt eine unvergeßliche Begegnung in seinem Leben, der sich ungezählte weitere anschlossen. Miller ist begeistert von Alis menschlicher Ausstrahlung, seiner tiefen Religiosität, seiner Spiritualität und seiner unglaublichen Energie, die es ihm ermöglicht, trotz seiner Parkinson-Krankheit allen Menschen, die in seinen Gesichtskreis treten, Aufmerksamkeit zu schenken.

Erstaunlich ist Alis Verhältnis zu Kindern, nicht nur zu denen, die in seine Fußstapfen treten wollen. Er boxt, spielt und tobt mit ihnen mit unermüdlicher Ausdauer - ja, er sieht sich selbst als ein großes Kind. Hinzu kommt eine beinahe grenzenlose Hilfsbereitschaft. Eine Szene, deren Zeuge Miller zufällig wurde, soll dies vor Augen führen: „Wir gehen in ein Café, das einige hundert Meter entfernt liegt. Einige Leute folgen uns, bis wir hineingehen. Beim Reingehen sieht er eine Frau, die mit dem Oberkörper auf dem Tisch lehnt und die Arme über dem Kopf zusammengeschlagen hat. Er setzt sich neben sie und fragt sie, was los sei. Sie sieht hoch und scheint Ali nicht zu erkennen, erzählt ihm aber, daß ihre Geldbörse gestohlen worden ist. Die Frau ist klein und rundlich und trägt einen rosa Trainingsanzug. Ihr schwarzes Haar ist teilweise schon ergraut, und sie hat tiefliegende grüne Augen, die hervortreten, als hätte sie jemand am Hals gepackt und viele, viele Jahre lang gedrückt, zwar nicht stark, aber fest.

Sie lacht müde. ,Da drin hatte ich mein ganzes Geld. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll. Und wie soll ich das meinem Mann sagen? Er ist mir so schon böse, daß ich soviel Geld ausgebe. Ich bin manchmal ganz frustriert. Manchmal haben wir ganz schlimmen Streit wegen der Knete.‘

Ali legt seine Hefte auf den Tisch und zieht ein zerfleddertes braunes Rindslederportemonnaie aus der Hosentasche. Darin sind dreihundert Dollar in bar und ein altes Foto von ihm mit allen seinen acht Kindern. Er gibt der Frau 280 Dollar.“

Ali hat tiefe Spuren im Bewußtsein vieler Menschen hinterlassen. Auch Nelson Mandela betont, daß er von Ali beeinflußt worden ist. Erst kürzlich liefen im Fernsehen Bilder von einer herzlichen Begegnung beider.

Zwischen Ali und Miller gibt es eine Wesensverwandtschaft. Der Autor ist in seinem Beruf bemüht, nicht über Menschen, die er interviewt, zu schreiben, sondern mit ihnen. Er hat damit Erfolg, den er auch darauf zurückführt, daß seine Interviewpartner (u. a. Ray Leonard, James Douglas und George Foreman) mit ihrem ausgeprägten Instinkt spüren, daß ihnen jemand gegenübertritt, der sie nicht verletzen will. Eine Haltung, die so selbstverständlich nicht ist.

Eindrucksvoll ist auch, was Miller über seinen Vater mitzuteilen hat. Erkrankung und Ableben seines Daddys verknüpft er mit den Nachrichten des Wetterkanals, dessen Ansager das Entstehen eines Orkans verfolgt und dabei in äußerst abstoßender Weise seine freudige Erwartung der bevorstehenden Katastrophe zu erkennen gibt.

Erschüttert läßt der Sohn einen Scheck der Versicherungsgesellschaft seines Vaters auf sein Konto überschreiben. Er hatte nichts gewußt von dieser Lebensversicherung, die sich der Vater, in eher ärmlichen Verhältnissen lebend, vom Munde abgespart haben mußte und die Davis nun die finanzielle Absicherung bot, um als Journalist und Schriftsteller bestehen zu können.

Davis Millers erste Veröffentlichung wurde von der Sunday Magazine Editors Association 1989 zum besten in einem Zeitungsmagazin erschienenen Essay gekürt. 1994 nominierte der „Miami Herald“ seine Story „The Zen of Muhammad Ali“ für den Pulitzerpreis; das Werk wurde in die 1994er Ausgabe von „The Best American Sports Writing“ aufgenommen.

Das Geheimnis des Muhammad Ali ist sein erstes Buch und fand ein lebhaftes Echo. Sogar mit dem bekannten Autor John Irving verglich ihn ein amerikanischer Kritiker. Auch Irving war Kampfsportler, Ringer, was seinen Widerhall in Romanen wie Garp und wie er die Welt sah und Eine Mittelgewichts-Ehe fand. In Schilderungen Millers wie der seines Sparringkampfes mit Ali, die den Prolog bildet, ist eine Affinität mit Irving sehr wohl zu erkennen.

Mancher Leser, der in das Geheimnis Muhammad Alis eingedrungen ist, wird sich wünschen, den ehemals großartigen Boxer und außergewöhnlichen Menschen kennenzulernen. Der Faszination, die von ihm ausgeht, kann man sich nur schwer entziehen. Der Freund des Boxens wird wehmütig an die „Kunst des Kampfes“, wie sie der „Größte“ zelebrierte, zurückdenken.

Abschließend noch einmal Miller mit einem Gedanken, der das Dilemma des Profiboxens charakterisiert: „Die Schwergewichts-Boxmeister haben oft den gesellschaftlichen Zustand und die Zeit widergespiegelt, deren Produkt sie waren ... So, wie der fleißige, elegant-stoische Joe Louis für die Zeit der Depression der 30er Jahre und die anstrengenden Kriegsjahre genau der richtige Champ war, so war der unsäglich freche, schöne und philosophische Ali der ideale König für die ausschweifenden 60er und die eklektischen 70er Jahre, und so ist es schwierig, sich einen perfekteren Schwergewichtsweltmeister vorzustellen als den punk-schicken, baumstammdicken Tyson als Vertreter der 80er Jahre, die gekennzeichnet waren von der Einstellung ,wir wollen alles kriegen, was wir nur kriegen können‘, ein Jahrzehnt, in dem von viel zu vielen Leuten der Mißbrauch extremer, ja karikaturartig hypertrophischer Gewalt leidenschaftlich verehrt wurde.“


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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