Eine Rezension von Licita Geppert
Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit
Jeremy Potter: Das Geheimnis des Abtes von Croyland
Historischer Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Friedrich Baadke.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, 265 S.
Seit langem liebe ich die englische Geschichte. Sie ist geheimnisvoll und labyrinthisch; sie ist voller blutiger Ränke, aber gleichzeitig liegt über ihr ein goldener Schimmer von staatsmännischer Größe, von Prunk und Machtentfaltung. Nicht von ungefähr hat sich Shakespeare vieler historischer Themen Britanniens angenommen. Sein Richard III. beschreibt exakt dieselbe Epoche wie der vorliegende Roman, behandelt dieselbe Frage, die seit 500Jahren die Historiker bewegt: Was geschah mit dem jungen zukünftigen König Edward V. und seinem Bruder Richard, Herzog von York? War Richard III. ein Usurpator, der seinen Weg zum Thron mit den Leichen zweier Knaben pflasterte? Nach Shakespeare, der genau dies überzeugend darstellt, haben sich auch andere Schriftsteller mit diesem Rätsel beschäftigt. Jeremy Potter ist eine ebenso überzeugende eigene Version englischer Geschichtsschreibung geglückt, die die Lücke glaubwürdig und plausibel mit einer gegenteiligen Erklärung schließt.
Ausgangspunkt der Handlung sind die Unruhen zu Zeiten Heinrichs VIII., die nach dessen Bruch mit dem Papsttum ganz England erschütterten. Wieder einmal manifestierten sich Machtkämpfe in Glaubensauseinandersetzungen. König Heinrich benutzte die vom Papst verweigerte Scheidung als Vorwand, sich zum Oberhaupt der englischen Kirche auszurufen und damit die Hoheit über die reichen Kirchenbesitztümer zu erlangen. Klöster wurden ausgeraubt und zerstört, ihre Bewohner in alle Winde zerstreut. Aber es formierte sich auch eine Gegenbewegung, die unter anderem deshalb zum Scheitern verurteilt war, weil ihr die Integrationsfigur in Gestalt eines besser legitimierten Thronerben fehlte.
Wer ein Geheimnis bewahren will, muß verbergen, daß er eines besitzt. (Goethe) Im Kloster Croyland scheinen sich wichtige Unterlagen über das Schicksal der Prinzen zu befinden, die vom Abt sorgfältig gehütet und vor den Augen der Welt verborgen werden. Leider haben die Gerüchte um das Geheimnis des Abtes von Croyland weite Kreise gezogen. Aufrührer wie Königstreue versuchen gleichermaßen, wenn auch aus entgegengesetzten Motiven, in Besitz des brisanten Wissens um die verschwundenen Prinzen zu gelangen. Der kluge, lebenszugewandte Lord Abt kann nicht verhindern, daß Bruder Thomas, der junge Archivar, den er wie einen Sohn liebt, voller Begeisterung über seine detektivischen Fähigkeiten Geheimnisse ausplaudert, die zum Untergang des Klosters führen könnten. Der Abt ist gezwungen, Bruder Thomas, der bisher kaum die Klostergrenzen überschritt, auf die gefahrvolle Mission auszusenden, nach Lebenszeichen der Prinzen zu suchen. So heißt der Roman im englischen Original auch treffender A Trail of Blood. Diese Blutspur im doppelten Sinne führt den Bruder durch ganz England und durch 150 Jahre Geschichte, um schließlich im heimatlichen Kloster zu enden. Wie so oft liegt die Lösung ganz in der Nähe...
Dieser spannende historische Kriminalroman ist ein Geschichtsbuch im besten Sinne. In ungewöhnlicher Dichte bettet der Autor unverrückbare Daten und Fakten in eine komplexe Handlung ein, die den Leser gefangennimmt wie der Bericht eines Augenzeugen. Wird auch die politische Entwicklung aus der Sicht der katholischen Kirche aufgerollt, so werden durchaus beide Seiten beleuchtet. Das opulente Historiengemälde ist unterlegt mit Kommentaren in nachdenklichem Grundtenor. Der weise Abt, der ebenso Staatsmann wie Kirchendiener ist, weiß sehr wohl zwischen politischer Notwendigkeit und menschlicher Schwäche zu differenzieren: ,Was verlangt das Reich von seinen Königen? fuhr der Abt fort. ,Indem er jeden Rivalen hinrichten ließ, verschaffte Henry Tudor dem Land Frieden nach dreißig Jahren Krieg. Durch Knauserigkeit und Erpressung füllte er die Staatskasse so reichlich, daß er die Staatsdiener angemessen bezahlen konnte. Seine Steuern waren hart, aber die Armen hatten stabile Preise. Wenn die Sicherheit oder das Wohlergehen des Staates es erforderten, zögerte er niemals, einen Eid zu brechen oder einen Freund zu verraten. Das ist der Stoff, aus dem Herrscher gemacht sind. Jedes seiner persönlichen Laster war eine Tugend für den Staat... Aus ebendiesem Grund ist der Abt auch trotz der Bedrohung für seine Abtei nicht gewillt, das Geheimnis um den rechtmäßigen Thronfolger an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, womit der historisch verbürgte Lauf der Ereignisse erhalten bleibt. Ich habe selten soviel Wissen mit soviel Vergnügen und Spannung vermittelt bekommen. Ein wirklich großartiges Buch!