Eine Rezension von Grace Maier


Auf der Suche nach Wahrheit

Nadine Gordimer: Die Hauswaffe

Roman. Aus dem Englischen von Susanne Höbel.

Berlin Verlag, Berlin 1998, 368 S.

Pflicht und Tugend eines Schriftstellers sei es, die reine Wahrheit zu sagen, hat die südafrikanische Autorin Nadine Gordimer in ihrer Nobelpreisrede im Jahre 1991 gemahnt. Ihre literarische Umsetzung dieses Anspruchs hat das Apartheidsystem mit Repressalien und Zensur bestraft: Drei ihrer Bücher wurden auf den Index gesetzt; es konnte sie nicht davon abhalten zu schreiben, was sie aus Überzeugung meinte schreiben zu müssen - Bücher gegen die Apartheid.

Die Hauswaffe ist ihr erster Roman nach dem Ende der Botha-Ära - eine meisterhaft komponierte Geschichte über eine verheerende familiäre Katastrophe, in der die Frage nach der Wahrheit eine dominierende Rolle spielt.

Wie fast alle ihre Romane und Erzählungen hat Die Hauswaffe einen südafrikanischen Hintergrund. Obwohl die Handlung im Gewand eines Kriminalromans dargeboten ist, auch ein Novum im literarischen Schaffen der Nobelpreisträgerin, und das tragisch-dramatische Geschehen durch einen scheinbar ganz privaten Konflikt ausgelöst wird, ist das Buch auch ein politisches Buch - ein unaufdringliches Plädoyer für das von Nelson Mandela geführte neue Südafrika.

Im Blick der Gordimer auf das heutige Johannesburg, den Schauplatz einer subtil und psychologisch brillant entwickelten Spuren- und Motivsuche im Fall eines Mordes, liegt neben unerbittlicher, kristallklarer Schärfe viel Nachsicht mit der neuen gesellschaftlichen Ordnung - und Hoffnung. Die Verhältnisse wandeln sich nur langsam, es braucht Zeit und Geduld für die Lösung der nahezu unlösbar scheinenden Probleme.

Noch beherrscht Gewalt und die Angst vor ihr den Alltag der Menschen in Johannesburg, und deshalb gehört dort eine Waffe wie selbstverständlich zum Hausinventar. „Wie sollte man sich in dieser Stadt verteidigen, wenn sie nicht da war, sich gegen den Verlust der Stereoanlage, des Fernsehgeräts und des Computers, der Uhr, des Schmucks wehren, dagegen, geknebelt, vergewaltigt, erstochen zu werden ... Doch das ist die Tragödie, die sich täglich, nächtlich in dieser Stadt und in unserem Land wiederholt. Als Teil der Einrichtung unserer Häuser, in der Hosentasche zusammen mit Autoschlüsseln, selbst in Schultaschen von Kindern, ständig griffbereit in Situationen, die zu einer Tragödie führen - die Waffe  i s t  z u f ä l l i g  d a .“

Wenn sie in dem Wohnzimmer eines Cottages nicht herumgelegen hätte „wie eine Hauskatze; auf einem Tisch wie ein Aschenbecher“, wäre der Mann auf der Couch, der mit einem Freund eben noch ein paar Worte gewechselt hat, nicht tot.

Plötzlich ist für Claudia und Harald Lindgard, ein wohlhabendes, gesellschaftlich etabliertes, gebildetes Paar (sie ist Ärztin und er Direktor einer renommierten Versicherungsgesellschaft), nichts mehr, wie es sein sollte, und es wird niemals mehr so werden, wie es war. Denn: „Etwas Schreckliches ist geschehen.“ Mit diesem banalen Satz beginnt der Roman und damit ein gänsehautspannendes, menschliches Drama, das atemlos macht - seine Protagonisten wie den Leser. Wie sollen die Lindgards die ungeheuerliche Nachricht begreifen, die, überbracht von einem Freund ihres Sohnes, mit Wucht in ihre wohlgeordnete Welt einschlägt - daß Duncan, ihr Sohn, ein Mörder ist! Ein Irrtum?! Ein psychotischer Traum?! Über Motiv und Tathergang hüllt Duncan sich zwar in Schweigen, aber er bestreitet die Tat nicht. Tötete er aus Eifersucht und im Affekt? Oder handelt es sich um kalt kalkulierte Rache, weil Carl, sein eigentlich homosexueller Freund, mit dem er selbst eine Affäre hatte, mit Duncans Freundin geschlafen hat, aus einer sexuellen Laune heraus und ungeniert, auf der Couch, auf der ihn Stunden später die Kugel aus der Hauswaffe traf? Daß ihr Sohn sie durch sein Geständnis nötigt, das Schreckliche zur Kenntnis zu nehmen, schockiert das Paar fast mehr noch als die Tat an sich. Wie konnte es dazu kommen, daß sie, Claudia und Harald, die stolzen Eltern eines begabten Sohnes, für den gerade eine vielversprechende Karriere als Architekt begann, plötzlich Vater und Mutter eines Mörders sind? Wie lebt man mit dieser ungeheuerlichen Wahrheit und den Fragen, auf die so schwer Antworten zu finden sind? - Anfangs, indem sie nicht wahrhaben wollen, was geschehen ist; ein Geschehen, das um so unbegreiflicher wird, je intensiver sie nach dem Warum der unfaßbaren Gewalttat forschen. Die Suche nach den Hintergründen und Motiven des Verbrechens, die vorrangig aus der Sicht der Eltern beschrieben wird, zwingt sie zur Auseinandersetzung mit ihrem und zur Rechenschaft über ihr eigenes Leben, zu einem schonungslos kritischen Blick zurück in die Vergangenheit, die offensichtlich so sorg- und problemlos nicht war, wie sie ihnen in der Erinnerung bislang erschienen ist.

Die Gordimer erweist sich wieder einmal als präzise Beobachterin menschlicher Dramen mit einer bewundernswerten Fähigkeit, androgyn zu sein, Charakter, Handlungen, Haltungen und seelische Befindlichkeit ihrer männlichen und weiblichen, schwarzen wie weißen Protagonisten gleichermaßen einfühlsam und glaubhaft zu gestalten. Unnachgiebig und mit soghafter Genauigkeit, teils kühl distanziert, teils mit tiefem Mitgefühl, registriert sie die Wandlung, die sich verändernden Empfindungen des verstörten Paares; sie durchdringt die Fassade menschlichen Scheins und legt nuancenreich und schonungslos bis zur Schmerzgrenze ihre Gefühle bloß - Hoffnung, Verzweiflung, Entsetzen, Ekel, Haß, Zorn, Bitterkeit, Scham, Angst ... und immer wieder Hoffnung -, mit denen die „armen beiden“ sich der möglichen Wahrheit nähern. Die Motivsuche und „Wahrheitsfindung“, die im Gerichtssaal mit dem Schlagabtausch zwischen Staatsanwalt und Verteidiger und ihren scharfsinnigen, analytisch und psychologisch brillanten Plädoyers in ein absichtsvoll theatralisch akzentuiertes Finale münden, gestaltet sich als ein konfliktvoller, existentieller Prozeß, der das bislang so harmonische, gesicherte Zusammenleben der Lindgards auf schmerzliche Weise in Frage stellt. „Ihr gemeinsames Leben war nicht genügend gerüstet, um so weit standzuhalten, bis an diesen Abgrund.“ Groll gegenüber dem Sohn, der ihrem Dasein eine so fürchterliche Wende gegeben hat und für sie ein Geheimnis ist, wechselt mit Selbstbeschuldigungen und Zweifel an sich selbst, aber auch gegenseitiges Mißtrauen stellt sich ein. Es treibt sie in die innere Isolation, die Sorge um und die Liebe zu ihrem Sohn drängt sie jedoch immer wieder zueinander.

„Die Menschen haben den Ehrgeiz, daß ihre Söhne es weiter bringen als sie; ihrer hat daraus einen Schrecken gemacht.“ Dabei waren sie überzeugt, ihn nach einem guten, ihrem (Vor-)Bilde (Harald ist ein tief gläubiger Kirchgänger, Claudia liberal und humanistisch gesinnt) geformt und ihm moralisch-ethische Werte vermittelt zu haben, die ein sicheres Fundament für ein glückliches, sinnvolles Leben garantieren. Nun werden sie damit konfrontiert, daß ihr Sohn sich und andere und insbesondere seine schöne, offenkundig neurotisch veranlagte Freundin mit missionarischem Eifer quälte. „Besitzergreifend ... jeder Gedanke, den ich habe, jede noch so banale Handlung, er hat alles auseinandergenommen“ - so ihre ihn demontierende Auskunft.

Schließlich das Fazit der Lindgards: „Wenn es einen Mord gegeben hat, was zählt dann noch? Nur das, was den Sohn retten kann.“ Noch ist die Todesstrafe nicht abgeschafft, es ist das Recht des Staates, ihn „im Gegenzug zu ermorden“. Und damit kommt Hamilton Motsamai ins Spiel, der aus dem Exil zurückgekehrte schwarze, hochgebildete und hochprofessionelle Anwalt, der den Lindgards als bester Verteidiger empfohlen worden ist. Über den Mann von der „anderen Seite“ gewinnt das private Debakel der Lindgards eine unübersehbar gesellschaftliche Dimension. In all den Jahren der Apartheid hat sich das Ehepaar um Distanz zu dem System bemüht und gerne ihre liberale Einstellung zur Schau gestellt. Sie haben das, was in ihrem Land geschehen ist, beklagt, es aber anderen überlassen, ihr Leben zu riskieren, um es zu verändern. Scheinbar spielte es für sie keine Rolle, ob jemand schwarz oder weiß geboren worden ist - tatsächlich aber sind sie in rassistischen Denkschemata befangen, was in dieser Situation zu der Überlegung führt, ob die nun gleichberechtigten Schwarzen auch g l e i c h w e r t i g sind. Ist es eine Chance oder ein Fehler, Motsamai das Leben ihres Sohnes anzuvertrauen? „Was sie jetzt von ihm wollten, war Gerissenheit, eine besondere Schlauheit, die ein Laie nicht haben konnte und die manche Leute, deren verallgemeinernde Vorurteile sie früher angewidert hatten, Anwälten bestimmter Rassen zuschrieben. Jüdische oder indische Anwälte, die konnten das. Standen einem schwarzen Anwalt dieselben Tricks zu Gebote?“ Einerseits beeindruckt von der Souveränität, Sachlichkeit und Konsequenz, mit der Motsamai die Verteidigung ihres Sohnes betreibt, sind sie andererseits zutiefst irritiert über „die verkehrte Welt“, der sie sich ausgeliefert fühlen; von einem Schwarzen abhängig, ihm unterlegen zu sein, macht ihnen, den Weißen, enorm zu schaffen.

Das kraftvoll gezeichnete Porträt des Anwalts ist wie das mit seismographischer Akribie gestaltete Psychogramm der Eltern unverwechselbar und wahrlich meisterlich gelungen. Aus ihrer komplizierten, ambivalenten Beziehung erwächst eine äußerst aufwühlende, nicht nachlassende Spannung - bis hin zum Showdown, dem eindrucksvoll formulierten Urteilsspruch ...

Duncan allerdings kommt in der Geschichte kaum zu Wort. Er ist lediglich „der Strudel, um den die anderen kreisen“, aber gleichwohl der Auslöser für eine vielschichtige, bewegende Menschengeschichte - einen Psycho-Thriller der besonderen Art.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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