Eine Rezension von Melissa Buschmann
Im Sog der Vergangenheit
Dorle Gelbhaar: Der Fremde am Telefon
Krimi.
ELEFANTEN PRESS Verlag, Berlin 1998, 192 S.
Kinder vergessen schnell, heißt es. Wenn dem so ist, dann erzählt Der Fremde am Telefon über eine Ausnahme von der Regel - von einem Mann, in dessen Kopf die Bilder seiner qualvollen Kindheit unaufhörlich spuken und sich zu einem Alptraum verdichten, aus dem es für ihn kein Entrinnen gibt, und seine Seele deformieren - mit katastrophalen Folgen. Über Jahre aufgestaute Spannungen brechen eines Tages auf. Getrieben von den bitteren, demütigenden Erinnerungen, die in eine krankhafte, von ihm nicht mehr zu zügelnde Haßliebe münden, welche sich gegen Jungen richtet, in denen er sich selbst wiederzuerkennen meint, beginnt er zwanghaft zu morden.
Zwei Kinder hat er in kurzer Folge gerade getötet und ein nächstes Opfer bereits im Visier: Jens, einen elfjährigen Jungen, dessen geordnetes, behütetes Leben durch den plötzlichen Tod seiner Mutter ganz anders geworden ist. Sein Zuhause hat Wärme und Geborgenheit verloren. Die Welt ist kein sicherer Ort mehr. Der Junge fühlt sich einsam und verlassen und fürchtet sich. Vor allem vor dem fremden Mann, der ihn beobachtet und ihn anruft, wenn er allein in der Wohnung ist.
Im Gegensatz zum eingeweihten Leser weiß Kommissar Jürgen Anders nichts von Jens und der Gefahr, in der der Junge schwebt, aber er hegt den begründeten Verdacht, daß es sich bei dem Mörder der beiden Kinder um einen Serientäter handelt, der womöglich in immer kürzeren Abständen töten wird. Die Polizei fand neben den toten Kindern jeweils ein aus bunten Fäden geknüpftes Püppchen von der Art, wie es Anders schon einmal neben einem toten Kind gesehen hat, bevor er aus dem Polizeidienst gefeuert worden war - in einem anderen Land, in einer anderen Zeit. Die Wunden der Vergangenheit sind noch längst nicht vernarbt, Gefühle der Niederlage und des Versagens steigen auf und die Erinnerungen an einen unerledigten Fall von damals, vor der Wende.
Die in dem Plot vorgestellten Protagonisten, der Kommissar, der Mörder und sein neues Objekt der Begierde, der Junge, haben bei aller Unterschiedlichkeit des Alters, ihres sozialen Habitus und ihrer Lebensverhältnisse eines gemeinsam: Sie alle haben seelische Blessuren erlitten, die ihr Dasein und das Geschehen mit einer gewissen Tristesse überschatten.
Die Autorin entfaltet die Geschichte vor allem durch die wechselnden Innensichten ihrer handelnden Personen, um soziale Konflikte und psychische Widersprüche, menschliche Entwicklungen und gesellschaftliche Prozesse zu spiegeln. Durch die offene Erzählweise- der Täter agiert nicht verdeckt, sondern tritt von Anfang an als der gesuchte Mörder ins Bild - wird der Leser ohne Effekthascherei oder vordergründige Detailmalerei sexueller Abartigkeit in die Rolle eines Beobachters versetzt, der weit besser informiert ist als die Polizei. Er erfährt von dem triebhaften Tötungsverlangen des Mannes und sukzessive, warum er seine Taten begeht, von seinen Annäherungs- und Täuschungsmanövern und seiner Angst vor Entdeckung. Die Spannung ergibt sich aus der Unberechenbarkeit eines von krankhaften Emotionen geleiteten Menschen und der Frage, ob die Polizei ihm auf die Spur kommen wird, bevor er ein weiteres Mal töten kann.
Die Erzählstruktur verlangt insbesondere eine tiefere Charakterdarstellung und psychologische Auslotung der Täterfigur, als es im herkömmlichen, d. h. verdeckt erzählten Krimi möglich ist. Was vor der Tat geschieht und geschah ist wichtiger als das, was danach passiert. Wie Teile eines Puzzles versucht die Autorin Momentaufnahmen aus dem Leben des Mannes von Kindheit an zu einem Psychogramm zusammenzufügen und die Ursachen der mörderischen Eskalation seiner verletzten Gefühle auszuloten. Doch es entsteht nur ein diffuses Bild. Die Einblicke in die psychische Beschaffenheit und Befindlichkeit des Täters gehen nicht abgrundtief, und die Auskünfte über die äußeren Umstände seines Lebens (in der DDR und der heutigen BRD) bleiben doch allzu bruchstückhaft und nebelig-trüb. Leider fehlt es der Figur an Komplexität, um sich in das Schicksal und die Persönlichkeit des Täters und seine kranke Seele einfühlen zu können.
Der Fremde am Telefon, mit dem Dorle Gelbhaar ihr Krimidebüt gibt, präsentiert sich als eine mit Anspruch und Anstrengung fabulierte Verbindung von Psycho- und Ermittlungsstory, die in handwerklicher wie erzählerischer Hinsicht einige Wünsche offenläßt, nicht zuletzt den nach zumindest einem Hauch von Humor. Die literarische Behandlung des traurigen Themas mit etwas weniger bierernster Verbissenheit hätte der Dramatik und Glaubwürdigkeit der Geschichte gewiß nicht geschadet, im Gegenteil.