Eine Rezension von Clara Conradi


Demontage eines Säulenheiligen

Philipp Vandenberg:

Der Spiegelmacher

Roman.

Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1998, 480 S., 3 Illustrationen

Christoph Kolumbus hat Amerika entdeckt. Das haben wir als Kinder in der Schule gelernt, und daran ist auch kaum noch zu rütteln. Wohl aber an seiner Rolle als „Eroberer der Neuen Welt mit Vorbildfunktion“. Jetzt nämlich, 506 Jahre nach seiner Landung, wird ihm von den Indianern in Honduras wegen Völkermordes und Rassismus der Prozeß gemacht, und er muß mit gnadenloser Bestrafung rechnen. Schon einmal, im Jahre 1992, wurde er von einem Stammesgericht in North Dakota postum für schuldig erklärt und zu 350 Jahren gemeinnütziger Arbeit verpflichtet. Kolumbus ist längst nicht die einzige „Ikone der Menschheitsgeschichte“, deren zivilisationsgeschichtliche Leistungen in jüngster Zeit in Frage gestellt werden. Marco Polo soll nie in China und also nichts als ein phantasievoller Lügner gewesen sein. Rembrandt hat sich neuesten Erkenntnissen nach mit fremden Federn geschmückt, nämlich mit den Bildern seiner Schüler.

Und nun hat Philipp Vandenberg, Autor historischer Thriller und Sachbücher wie Der Fluch der Pharaonen, Sixtinische Verschwörung, Das fünfte Evangelium oder Der Schatz des Priamos, um nur einige zu nennen, ein Buch vorgelegt, in dem er die Demontage des Säulenheiligen der Schwarzen Kunst betreibt, jenes Mannes, der vor 550 Jahren zu Mainz den Buchdruck revolutionierte, indem er bewegliche Lettern verwendete und damit Schwung in das Buchwesen des Abendlandes brachte. Die Rede ist von Johannes Gensfleisch zur Laden, genannt Gutenberg, dem ersten Drucker der Bibel: Ein intriganter Fiesling sei er gewesen, der seinen Lehrmeister nicht nur um den Lohn seiner Arbeit, sondern auch auf Lebenszeit in den Kerker gebracht hat.

Im Mittelpunkt von Vandenbergs jüngstem Roman steht allerdings nicht der so geschmähte Gutenberg, sondern das Opfer seiner angeblichen Schurkerei, der Spiegelmacher Michael Melzer, eine, um nicht Verwirrung aufkommen zu lassen, fiktive Figur, dem sein geistiger Schöpfer alle Höhen und Tiefen aufbürdet, die das Leben für einen Menschen bereithält, bis sein Dasein eben dort endet, wo der Autor seine abenteuerliche Geschichte um die Erfindung der Schwarzen Kunst ihren Ausgang nehmen läßt - in der Dunkelheit des tiefsten Verlieses von Mainz. Hier findet der Romanheld, alt und nahezu blind, Gelegenheit, einem Mithäftling seine Lebenserinnerungen zu diktieren. Ein von Intrigen, Mord und Verrat gezeichnetes Schicksal, das sich wie eine mittelalterliche soap-opera liest ...

Einst, lange Zeit bevor Michael Melzer im Gewölbe des Erzbischofs seine Tage zählte, hat er durch seine Kunst als Spiegelmacher viele Menschen glücklich gemacht, derweil er selbst von Fortuna ziemlich stiefmütterlich behandelt wurde: Seine junge Frau fand früh und elend den Tod, ein Feuer legte sein Hab und Gut in Schutt und Asche (wobei der arglistige Gensfleisch vermutlich seine geschickten Hände im bösen Spiel gehabt hat), und seine Tochter Editha war zwar hübsch, aber stumm.

Um die Mitte des 15. Jahrhunderts begibt sich der vom Schicksal so heftig Gebeutelte auf eine Reise ins ferne Konstantinopel, um Editha mit einem reichen Kaufmann zu vermählen und auch selbst sein Glück zu machen. Doch statt dessen geht wieder einmal alles schief. Das Mädchen fühlt sich verkauft und flieht. Auf der Suche nach ihm gelangt Melzer durch Zufall in den Besitz einer geheimen Erfindung, der künstlichen Schrift, welche den Druck von Ablaßbriefen in bisher unerreichter Zahl ermöglicht. Die Erfindung verspricht neben Reichtum vor allem Macht und wird, ehe Melzer sich’s versieht, zum Objekt der Begierde unterschiedlichster Parteien. Plötzlich ist er ein gejagter Mann und lebensgefährlich verstrickt in die machtpolitischen Ränke zwischen Kaiser, Papst, Dogen, Ketzern, Mördern und Verschwörern. („Die künstliche Schrift hat die Macht, Menschen zu verändern. Und das unterscheidet Euer Handwerk von allen anderen Zünften.“) Sein Leben entwickelt sich zur Odyssee, die ihn kreuz und quer durch das von den Venezianern eroberte und nun von den Türken bedrohte Konstantinopel treibt, von dort nach Venedig, dem damaligen Machtzentrum des Mittelmeers, und schließlich zurück in seine Heimatstadt Mainz, wo der übermächtige Erzbischof residiert und wo Melzer sein Wahlspruch fürs Leben, „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’“, und der finstere Charakter seines früheren Gesellen endgültig zum Verhängnis wird.

Vandenberg, erfahren im Umgang mit geschichtsträchtigen Themen, spannt einen großen Bogen, um - kenntnisreich und mit leichter Hand - Einzelschicksal und Epoche zu einem vielfarbigen historischen Gemälde zu verbinden. Es zeigt Chinesen, Byzantiner, Venezianer, weltliche und klerikale Herrscher, Handwerksgesellen, Alchimisten, Tuchhändler, Diener, Bürger, Edelleute, einfaches Volk, schöne Frauen, bettelnde Mönche und andere fromme Christenmenschen, die Glanz und Elend des ausgehenden 15. Jahrhunderts lebendig werden lassen. Wohl um seinem Helden so nahe wie möglich zu sein, hat Vandenberg den Roman im Folterturm von Deutschlands längster Burg in Burghausen zu Papier gebracht beziehungsweise in den Computer. Allerdings nicht in einem dunklen Verlies, sondern in einer dem Vernehmen nach „komfortablen Schreibstube“, die er sich dort eingerichtet hat. Womöglich ist ihm deshalb das mittelalterliche Leben etwas komfortabler geraten, als es mir aus dem Geschichtsunterricht und anderen literarischen Werken über diese Epoche erinnerlich ist. Die Heimsuchungen dieser Zeit wie Hungersnöte, Kriege und Epidemien werden natürlich nicht ausgespart, bleiben aber Randerscheinungen und ohne nennenswerten Einfluß auf die geschilderten Ereignisse. Um so detaillierter sind die Gewänder beschrieben, in denen seinerzeit mehr oder weniger Staat zu machen war.

Vandenberg erweist sich als ein phantasiereicher, routinierter Erzähler. Er strukturiert die breit angelegte Handlung souverän, hält sie ständig im Fluß - im Sinne von nicht nachlassender Spannung, Erwecken von Neugier, wohin die Sache treibt. Zahllose Menschen schickt er dem Helden über seinen halsbrecherischen Weg, fast unüberschaubar viele, so daß es dem Verlag angeraten schien, dem Roman einen Besetzungszettel beizugeben. Das opulente Figurenensemble bringt eine Menge Farbe und Bewegung ins Bild und läßt keine Langeweile aufkommen. Woran es jedoch fehlt, ist gestalterische Tiefe, die an die Emotionen des Lesers rührt. Obwohl das Schicksal, die Mächtigen der damaligen Welt sowie Gensfleisch alias Gutenberg dem Spiegelmacher wirklich übel mitspielen, bleibt man als Leser zwar stets interessiert, aber gefühlsmäßig eher unbeteiligt. Die umfangreiche Personnage steht einer charakterlichen Profilierung der Figuren - Voraussetzung für Identifizierung oder kritische Distanz - im Wege. Im Interesse nicht nachlassender Spannung werden sie allzu vordergründig nach dem Willen des Autors - gleich Marionetten oder Schachfiguren- durch die Handlung geführt, so daß ihnen wenig Gelegenheit gegeben ist, sich als unverwechselbare Charaktere zu entfalten. Selbst das Porträt des Protagonisten, der scheinbar vielschichtig als ein ehrenwerter Mann, begnadeter Spiegelmacher und professioneller Schwarzkünstler, als besorgter Vater und leidenschaftlicher Liebhaber angelegt ist, gewinnt keine wirklich originellen Züge.

Turbulent, spannend, überraschend und informativ sind seine vor glaubhafter historischer Kulisse in Szene gesetzten Lebenserinnerungen aber allemal, Vorzüge, die eine unterhaltsame Lektüre garantieren. Offen bleibt die Frage, wie der Schurke Gutenberg postum angemessen zu bestrafen ist.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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