Eine Rezension von Hans Aschenbrenner
Man liest ihn nicht aus ...
Helmuth Nürnberger: Fontanes Welt
Siedler Verlag, Berlin 1997, 448 S.
Theodor Fontane, schlichter Feind aller Phrasen, hat viele Bekenntnisse hinterlassen, in denen er uns mehr oder weniger deutlich, mal mehr, mal weniger ernstgemeint, Einblicke in sein Innerstes, in zeitweilige oder beständige Befindlichkeiten, ja sogar in Charakterfehler erlaubt. Über späten Ruhm sich zu freuen, das hinderte ihn bekanntlich nicht daran, diesen (auch ein wenig über sich selbst spöttelnd) als Rühmchen abzutun, gleichgültig war er ihm keinesfalls. Was mir selbst fehlte, war Sinn für Feierlichkeit, bekannte freimütig dieser Künstler der Worte, dessen literarisches Werk wie kein zweites in vergleichbarer Weise im deutschen Sprachraum weite Strecken des vergangenen Jahrhunderts in sich aufgenommen hat. Was ist er nicht alles in einer Person: fest und tief im Historischen wurzelnd und zugleich im Zeitbann stehend; schreibend ein Unzeitgemäßer und seiner Epoche dennoch in so mancher Beziehung voraus, aber ihr dann doch auch wieder nur widerwillig folgend; Realist wie Romantiker, Poet; fester Altpreuße, aber mitnichten Nationalist, weitgereist und doch der Heimat verbunden, und noch vieles mehr. Nicht gerecht wird ihm, wer das Ganze seiner sehr viele, auch gegensätzliche Facetten ausmachenden Persönlichkeit außer acht läßt. Da ist (hat er) schon vorgesorgt, daß seine Biographen ein immenses Stück Arbeit zu leisten haben. Erst recht nicht gerecht wird dem glänzenden Formulierer und unermüdlichen Arbeiter, wer ihn mit schwülstigen, gar phrasenhaft-oberflächlichen Würdigungen bedenkt.
Nichts dergleichen findet der Leser in Nürnbergers Buch mit dem ebenso schönen wie anspruchsvollen Titel Fontanes Welt. Der gut gestaltete, zweispaltig gesetzte, reich illustrierte, griffige Band imponiert durch eine wahre Flut an Informationen, notwendige Basis für überlegt formulierte Verallgemeinerungen. Als eine Grunderkenntnis wird erneut bekräftigt, daß, solange man über Fontane nachdenkt, ein unbestimmter Rest bleibt. Oft weiß er - egal, worum es sich handelt - mehr, als er gerade sagt. Nicht einfach ist es, seine gegensätzlich anmutenden Urteile (die nur scheinbar gegensätzlich sind, aber auch nicht immer) über Personen, die eigene eingeschlossen, zu hinterfragen. Sein Werk ist raffinierter - auch moderner -, als es den Anschein hat. Kompliziert ist auch der Mensch, der sich dem unmittelbaren Zugang nicht leicht öffnet, resümiert der Autor zu Recht. Die Beschäftigung mit dem Dichter ist wohl gerade deshalb so angenehm, so interessant wie anspruchsvoll und ersprießlich, weil er sich auf eindeutiges Verständnis nicht festlegen läßt. Wenn man über ihn schreibt, so die Erfahrung des Autors, handelt es sich mehr darum, die Nuancen und wohl auch die Widersprüche sichtbar zu machen, als sie zugunsten einer bestimmten Auslegung zu verwischen, mag diese auch den vermeintlichen Vorteil größerer Verbindlichkeit haben. Das beziehe sich sogar auf seine Pikanterien, die man ihres Schwebezustandes nicht entheben dürfe, denn: Das Zweideutige wird banal, wenn es eindeutig wird. In sympathischer Weise sieht Nürnberger die Aufgabe des Biographen gar nicht so sehr darin, den Mythos restlos aufzulösen, sondern ihn mittels Kritik ins rechte Licht zu rücken. Auch das Bild, das ein Künstler von sich zu geben wünscht, ist ein Teil seines Lebens.
Damit ist bereits einiges darüber ausgesagt, wie der Autor, Professor der Literaturwissenschaft und Vorsitzender der 1990 in Potsdam gegründeten Theodor-Fontane-Gesellschaft, sein Thema angegangen ist. Dabei zehrte er auch von langjährigen editorischen Verpflichtungen (vor allem Herausgabe der 22bändigen Fontane-Ausgabe bei Hanser) sowie von dem, was er eigener und fremder Forschungsarbeit zu entnehmen vermochte. Die Publikation ist als ein Beitrag zu der seit langem geforderten Fontane-Gesamtdarstellung, nicht jedoch als diese selbst gedacht. Besonders die eingehende Erörterung der Romane wäre nur in größerem Zusammenhang zu leisten, bekräftigt der Autor. Er sieht sein Anliegen darin, einzelne Aspekte zur Geltung zu bringen, an denen charakteristische Eigentümlichkeiten der Fontaneschen Erzählkunst deutlich werden. Hierbei tritt in Kraft, was immer der Fall zu sein hat: Das Schaffen eines großen Künstlers hat bedeutungsmäßig Vorrang vor den nachschaffenden Bemühungen seiner Ausleger, denn alles, was sich über die Werke - nur auf sie kommt es an - sagen läßt, ist schwächer als diese. Das gilt auch und gerade für eine Zeit, die sich dieses Künstlers mit einer gewissen Vehemenz bemächtigt.
Fontanes Welt ist chronologisch aufgebaut. Die gewählten zeitlichen Einschnitte haben sich natürlich angeboten: Restaurationszeit (1819-1840); Literarischer Vormärz und Revolution (1840-1849); Nachmärzliches Berlin und viktorianisches London (1850-1858); Regentschaft, Verfassungskonflikt und Einigungskriege (1859-1870); Theater und Literatur im neuen Reich (1871-1878); Die Bismarckzeit wird Literatur (1878-1889); Wilhelminisches Kaiserreich und Fin de siècle (1889-1898). Über chronologisches Herangehen hinaus werden zeitlich auseinanderliegende, jedoch biographisch oder werkgeschichtlich verbundene Vorgänge nicht ausgeklammert, überkreuzen sich doch Entstehung und Erscheinen besonders der Romane, aber auch der übrigen literarischen Arbeiten. Gerade diese Zusammenhänge sind für das Verständnis des Gesamtwerks unumgänglich. Darüber hinaus gibt es noch ergänzende Kapitel über Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis des Dichters. All das geschieht gezielt, nicht zufällig, stets dem Zweck untergeordnet, Fontanes Welt schärfere Kontur zu geben.
Helmuth Nürnberger hat eine nicht dem Äußeren nach wissenschaftliche, aber wissenschaftlich verantwortbare Darstellung angestrebt. Aus Platzgründen wurde auf eine ausführliche Bibliographie verzichtet. Aufgeführt (und möglichst den Kapiteln zugeordnet, für die sie besonders hilfreich waren) sind nur die Arbeiten, die tatsächlich benutzt wurden. Auch Anmerkungen und damit ausführliche Quellenverweise hätten das Ganze noch mehr ausufern lassen. Fontane-Zitate erscheinen im Text kursiv und werden im Anhang belegt, Briefzeugnisse datiert.
Fontane fehlt es mittlerweile, so kann man heute denken und das stellt auch der Autor fest, in fast schon beängstigender Weise an fast nichts: nicht an Ehrungen, an öffentlicher Aufmerksamkeit und nicht an neuen Editionen. In den letzten Jahren ist eine Fülle bisher ganz oder weitgehend unbekannter Texte erschlossen worden: Briefe, Tagebücher, journalistische Arbeiten, Gedichte, frühe Erzählungen und Fragmente. Was dabei unter dem Strich herausgekommen ist, ist in dem Buch sehr plastisch zusammengefaßt: Leerstellen des überlieferten Bildes sind gefüllt, undeutliche Linien nachgezogen, Übermalungen von fremder oder des Dichters eigener Hand abgetragen worden. Gewiß, die Literatur über Fontane ist längst unübersehbar geworden ... Auch was Arbeiten von Fontanes eigener Hand anbetrifft - ,wann hat er das nur alles geschrieben? -, hat sich das Lesepensum noch erheblich vermehrt. Da sich diese Texte in der beschriebenen Weise oft wechselseitig in Frage stellen, ist es wünschenswert, vielmehr unerläßlich, lange mit ihnen umzugehen. Alles dies berücksichtigt, ist vielleicht doch die Behauptung gestattet, daß wir nunmehr deutlicher als früher zu bezeichnen vermögen, was kritischer Sicht nicht standhält. Die alten Legenden sind obsolet geworden.
Und die neuen?
Nicht zuletzt im Hinblick auf diese Frage lohnt es sich, den stattlichen Band immer wieder einmal in die Hand zu nehmen. Für Fontane selbst postuliert der Autor: Man liest ihn nicht aus ...