Eine Rezension von Ulrike Henning
Chronologie einer Niederlage
Carina Burman:
Die zehnte Göttin des Gesangs
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek.
Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1998, 430 S.
Carina Burman entwirft in ihrem Roman das Bild des akademischen Uppsala von 1910, in dem sich unter vielen Männern auch eine Dozentin zu bewähren hat. Eine gewisse Muffigkeit und Dekadenz ist auch bei jener schwedischen Literaturgesellschaft nicht zu übersehen, deren Jahreskongreß das Buch einleitet - der Erste Weltkrieg wirft seine Schatten voraus. Dennoch gab es in diesen Zeiten nicht nur weltabgewandte literarische Vorträge und von reichlich Fischgerichten überquellende Büffets. In Schweden wird zum Beispiel um das Frauenwahlrecht gekämpft, was im Buch gestreift wird - wohl eher um einer fragwürdigen Authentizität willen, als um darin wirkliche Entwicklungsprozesse darzustellen. Frauen wie die Dozentin Elisabet Gran und noch mehr ihre beiden Mitstreiterinnen wagen die ersten Schritte eines selbstbestimmten Lebens außerhalb der bürgerlichen Ehe. Es ist die Zeit der Entdeckung der Gymnastik, der vegetarischen Ernährung, der Vorteile einer natürlicheren Lebensweise.
Nun kommt es gleich eingangs zu der wissenschaftlichen Herausforderung der Dozentin durch ihren Professor, der meint, daß es unmöglich wäre, in alten Handschriften noch Neues zu entdecken - die Zeiten der Theoriebildung seien gekommen. Elisabet Gran jedoch hat sich das Objekt ihrer Begierde bereits erwählt: die Briefe der Sophia Elisabeth Brenner, jener halb vergessenen schwedischen Dichterin, die an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert lebte. Vermerkt sind die Verse der Brenner wie ihre Studien in mehreren Sprachen, teils wurde sie als zweite Sappho oder zehnte Sangesgöttin gepriesen - und sie war Mutter von 15 Kindern. Die Wette mit ihrem Professor ist jedoch schon der Geburtsfehler des ganzen Unternehmens, wie sich später zeigen wird.
Zunächst wandelt Dozentin Gran mehrere Jahre auf den Wegen der Forschung, zeitweise unterstützt durch eine Freundin und deren Lebensgefährtin. Recht ausführlich wird auch der Lebensstil dieser drei Frauen geschildert, aber bereits hier schleicht sich zwischen Joghurt, Schwimmstunden und Zeitschriftenlektüre eine gewisse Beliebigkeit ein - zu sehr schimmern bestimmte Schemen heutiger Frauenillustrierter durch. In neun Kapiteln, die hier die neun Kreise des Forschungsjournals der Dozentin Gran sind, wird der Verlauf der gemeinsamen Arbeit berichtet, ergänzt durch (authentische) Gedichte der Brenner und erdachte Briefe von ihr. Diese Briefe finden die Frauen bei einem schwedische Freiherrn, in Berlin, Quedlinburg, im Vatikan, in Wolfenbüttel und zuletzt noch im Petrograd des stürmischen Jahres 1917. Es gibt jedoch in dieser Zeit nur eine oberflächliche Annäherung der drei Frauen, letztlich geht jede ihren eigenen Weg - Choice, die den feministischen Gedanken am nächsten war, heiratet, wird Familienmutter und zugleich reformfreudige Unternehmerin. Thea verschwindet in den Wirren der Februarrevolution in den Fraueneinheiten Kerenskis. Dozentin Gran jedoch hat an so ziemlich jeder Station ihrer Forschungen eine Affäre, ein Techtelmechtel - Beziehungen, mit denen sie mehr oder weniger gelassen umgeht, die ihre Entscheidung für ein Leben als Wissenschaftlerin nicht in Frage stellen. Den Ereignissen der Zeitgeschichte gegenüber scheint sie aber weniger standfest zu sein: Der Untergang der Titanic beispielsweise bringt sie an den Rand einer Depression, zumal dabei auch - leider etwas sehr konstruiert - einige der Brenner-Briefe im Original unwiederbringlich verlorengehen. Krank und später sehr apathisch wird Elisabet Gran aber dann mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, den sie in Deutschland erleben muß. Zu diesem Zeitpunkt vernachlässigt sie auch die Arbeiten an den Brenner-Briefen, der anfängliche Elan scheint verloren.
Der Gang der Realgeschichte wird im Roman aber nun von der Aufdeckung der Rolle der Dichterin Brenner in ihrer Zeit begleitet. Es scheint da ein Geheimnis zu geben, dessen schrittweise Enthüllung dem Buch den größten Teil seiner Spannung verleiht: Vermutlich hat die Dichterin einem geheimen Frauenbund angehört, in dem sich zehn gebildete, begüterte und auch einflußreiche Frauen Europas dem Kult der Diana widmeten. Elisabeth Brenner steht diesem Kreis für eine Zeit vor. Als eines der wesentlichen Anliegen dieses Ordens kristallisiert sich ihr Versuch heraus, in Europa friedensbewahrend zu wirken. Das sollte durch eine aktive Politik dieser Frauen gegenüber ihnen zugänglichen Herrschern geschehen. Jedoch schei terte der Anspruch mit dem Fortgang der Geschichte - am Ende des Romans trifft Dozentin Gran die uralte Fürstin Jussupowa, deren Mutter und Großmutter einst ebenfalls zum Frauenbund gehört hatten, und wird mit dessen Vergänglichkeit konfrontiert. In dieser Szene zeigt sich auch die Weltfremdheit der schwedischen Forscherin, die im stillen mehr und mehr gehofft hatte, selbst eine Art Fortsetzerin des lebensbejahenden Dianen-Kultes zu werden. Daß dies unmöglich ist, muß sie sich von dem adligen Weiblein im revolutionären Petrograd sagen lassen. Gleichzeitig kann sie selbst mit den sich überschlagenden Ereignissen auf den Straßen nichts anfangen. Sie läßt sich treiben, das Arsenal mit all den bisher gesammelten Brenner-Abschriften verbrennt in einem Hotel - und weniger durch eigenes Zutun als durch geheimnisvolle Hilfe landet sie letztlich wieder wohlbehalten im heimatlichen Uppsala.
Doch was ist gewonnen? Die geleistete Arbeit wurde zu Asche, und am Ende steht wieder ein Jahreskongreß der Literaturgesellschaft, an dem Dozentin Gran - erneut einzige Frau unter Männern - teilnimmt. Nur daß jetzt das Büfett weniger reichhaltig ausfällt, die Sprüche der Studenten gewöhnlicher werden. Die männlichen Kollegen der Elisabet Gran bewegen sich auf das nur zeitlich verschobene, gesetzte Familienleben zu, als respektable Schuldirektoren - es stände auch ihr frei, sich in eines dieser Bilder einzufügen. Aber der Roman läßt es offen, und die junge Frau schaut am Ende in die Sterne im nächtlichen Uppsala.
Es scheint nichts geblieben von den Verheißungen des Anfangs - der Prolog fand ja noch im Himmel statt. Das Nachspiel endet im Wirtshaus Luken zu den sieben Höllen. Soll es tatsächlich so traurig aussehen? Denn die sieben Höllen könnten die verschiedenen Lebensentwürfe sein, in der Wissenschaft oder in der Familie, wo auch immer - es erscheint in der beschriebenen gesellschaftlichen Atmosphäre das Biedere, Gemächliche zum ehernen Gesetz geworden, aus dem es kein Ausbrechen geben kann. Das Aufbegehren war eine Möglichkeit, zu der die Brenner-Forschungen hätten hinführen k ö n n e n. Dozentin Gran hat sie nicht genutzt, die Autorin Carina Burman wollte sie nicht nutzen. Die Botschaft wäre die Hinnahme des Bestehenden, die Unfähigkeit des einzelnen, insbesondere der einzelnen Frau, sich aus den gegebenen Zuständen zu erheben, etwas zu verändern. Insofern paßt der Roman in die nunmehr angebrochene Zeit der Beliebigkeit und Fügsamkeit. Aber Carina Burman hat, ob absichtlich oder nicht, auch das Konstrukt der Geschichte mitgegeben. Die Künstlichkeit ihres literarischen Produktes läßt sich beim Lesen nicht vergessen, die Handlung erwächst nicht aus sich selbst. So endet die Lektüre mit einer Enttäuschung, die es vielleicht aber ermöglicht, im eigenen Alltag bestimmte Illusionen schneller zu erkennen.