Eine Rezension von Kathrin Chod
Die Stunde der Idiotie?
Iring Fetscher:
Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast 1943
Wollt ihr den totalen Krieg?
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1998, 276 S.
Diese Bilder sind wohl jedem aus Film und Fernsehen bekannt. Joseph Goebbels ruft der Menge im Berliner Sportpalast zu: Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Die Menge entgegnet stürmisch: Ja!, klatscht und trampelt. Wenn es darum geht, die Begeisterung der Deutschen für den Nationalsozialismus zu demonstrieren, dann wird wohl kaum eine Szene häufiger in Dokumentationen gezeigt. Was könnte auch besser beweisen, daß dieses Volk bedingungslos bereit war, seinem Führer in den Abgrund zu folgen? Immer wieder gern werden wie eine logische Schlußfolgerung auch Sätze wie Vom totalen Krieg - zur totalen Niederlage bemüht. Doch so häufig auf die Veranstaltung auch Bezug genommen wird, viel weniger beschäftigt man sich mit dem genauen Inhalt der Rede und ihren Begleitumständen. Was wollte Goebbels mit der Rede erreichen? Wie gelang es ihm, das Publikum in eine solche Ekstase zu treiben? Angeblich soll Goebbels unmittelbar nach der Veranstaltung gesagt haben: Diese Stunde der Idiotie. Wenn ich den Leuten gesagt hätte: Springt aus dem dritten Stock des Columbushauses - sie hätten es auch getan. Schließlich, wie setzte sich das Publikum zusammen, und welche unmittelbaren und langfristigen Folgen hatte die Veranstaltung im Sportpalast?
Iring Fetscher, Politikwissenschaftler und emeritierter Professor, stieß beim Schreiben seiner Lebenserinnerungen auf eine Tagebuchnotiz, die er als 21jähriger Soldat am 19. Februar 1943 verfaßte: Gestern Goebbelsrede. Glänzende Volksrede eines einzigartigen gesteigerten Volksrausches. 10 Fragen an das deutsche Volk in biblischer Feierlichkeit, dies mutet alles wie ein ganz großes, gewaltiges Schauspiel an, dessen Tiefe, Tragik und Bedeutung wohl kaum einer der Anwesenden verstehen mag. Fetscher, der sich schon zur damaligen Zeit als Gegner der Nationalsozialisten sieht, versucht mehr als fünfzig Jahre später, seine eigene Reaktion auf die Rundfunkübertragung zu erklären, und beginnt, den Vortrag sowie das Echo im In- und Ausland zu studieren. Sein Buch enthält so neben dem Abdruck der vollständigen Rede des Propagandaministers, einschließlich der Zwischenrufe, einen Kommentar zur Ansprache und eine ausführliche Betrachtung zu den Reaktionen.
Für die Veranstaltung vom 18. Februar 1943 sieht Fetscher mehrere Adressaten: Zum einen ist es natürlich die deutsche Bevölkerung, die nach der Niederlage von Stalingrad die nötige Siegeszuversicht vermissen ließ, zum anderen das neutrale Ausland und die Westmächte, denen vorgehalten wird, daß die deutsche Wehrmacht immerhin für ganz Europa, ja für die gesamte zivilisierte Welt gegen den Bolschewismus kämpfe. Schließlich sollten auch Hitler und dessen unmittelbare Umgebung mit der Sportpalastrede unter Druck gesetzt werden, damit der totale Krieg radikal realisiert würde.
Zu den 14000 unmittelbaren Teilnehmern der Kundgebung des Gaues Berlin der NSDAP im Sportpalast gehörten neben Prominenten auch bestellte Claqueure. Der Autor des vorliegenden Buches glaubt, wie auch andere vor ihm, daß das Ausmaß der Zwischenrufe und der Sprechchöre am 18. Februar nicht zufällig und spontan entstanden ist.
Bei der Lektüre der Ausführungen von Goebbels wird deutlich, daß er im Gegensatz zu den geschönten Wehrmachtsberichten versucht, über eine realistischere Schilderung der Kriegslage die Bevölkerung aufzurütteln. Da ist deshalb viel die Rede von voller Wahrheit, voller Offenheit und einem ungeschminkten Bild der Lage. Die Niederlage von Stalingrad erhält einen geradezu mythischen Anstrich, eine tiefe schicksalhafte Bedeutung. Aufgrund der Gefahr für die zweitausendjährige Aufbauarbeit der abendländischen Menschheit, für die heiligsten Güter solle das deutsche Volk nun aufstehen, gegen die vorstürmenden Sowjetdivisionen: Nun Volk, steh auf - und Sturm, brich los!
Fetscher geht in einem Exkurs auf das Konzept des totalen Krieges, entwickelt von Erich Ludendorff, ein. Es wird allerdings nur die Diskussion in Deutschland unter anderem anhand von Beiträgen Ludwig Becks und Alfred Baeumlers behandelt. Erwähnenswert wäre in diesem Zusammenhang schon gewesen, daß es auch im Ausland Wortmeldungen zur Theorie des totalen Krieges gab.
Ungeachtet des tatsächlichen Kerns des Begriffes meinte der größte Teil der deutschen Bevölkerung nach der Goebbelsrede, daß im totalen Krieg vor allem ohne Rücksichtnahme und mit den extremsten Mitteln gekämpft wird. Dies sollte jedoch nur die eine Seite der Medaille sein. Vielmehr noch wollte Goebbels, ganz im Sinne seiner Vordenker, alle materiellen, geistigen und moralischen Kräfte des gesamten deutschen Volkes zum Kampf gegen den Ansturm der Steppe mobilisieren. Zuallererst sollten neue Soldaten für die Front gewonnen werden, darüber hinaus Arbeiter und Arbeiterinnen für die Rüstungswirtschaft. Diesen Zielen hatten sich alle anderen Be dürfnisse unterzuordnen: Gemütlich werden wir es uns wieder machen, wenn wir den Sieg in Händen haben. Für jeden sichtbar wurde das u. a. durch die Schließung von Feinkostläden, Tanzlokalen und ähnlichen Einrichtungen.
Iring Fetscher legt dar, daß der langfristige Erfolg der Veranstaltung ausblieb: Ebensowenig wie die Stimmung der Bevölkerung dauerhaft durch die Reden von Goebbels ... gebessert werden konnte, gelang es die Arbeitskräfte für die Rüstungswirtschaft und zusätzliche Soldaten für das Heer in der gewünschten Zahl zu rekrutieren. Der Autor verweist auf Untersuchungen alliierter Fachleute nach dem Krieg. Demnach war selbst zum Zeitpunkt des totalen Krieges die deutsche Wirtschaft nicht bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit ausgeschöpft. Verglichen mit anderen kriegführenden Nationen, vor allem mit der Sowjetunion und Großbritannien, gab es weder eine totale Mobilisierung noch die nötige Einschränkung der zivilen Produktion. Selbst unter Albert Speer, der in vielen Bereichen die Fließbandproduktion erst einleitete, unterblieb beispielsweise in der Regel die Einführung des Dreischichtbetriebes.
Fast ein Drittel des Buches nimmt das Echo auf die Goebbelsrede bei den Neutralen, den deutschen Verbündeten oder den Alliierten der Antihitlerkoalition ein. Dieses Echo ist bei Fetscher aber lediglich der Widerhall im Pressewald. Anderweitige Reaktionen werden von ihm nicht berücksichtigt. Dabei wäre doch aufschlußreich gewesen, inwieweit die begeisterte Menge im Sportpalast das Bild der Alliierten von der deutschen Bevölkerung beeinflußte. Schließlich war von allen Seiten das Kampfpotential fanatischer Werwölfe, die den Kampf auch nach der militärischen Niederlage weiterführen sollten, völlig überschätzt worden. Vielleicht etwas zu ausführlich werden aber nun die Zeitungsberichte und -kommentare zitiert, zumal es hier naturgemäß zu inhaltlichen Überschneidungen und Wiederholungen kommt. Von Vorteil wäre auch eine kurze Kennzeichnung der benutzten Blätter gewesen, da wohl nicht jedem Leser Titel wie die türkische Zeitung Cumhuriyet geläufig sein werden.