Eine Rezension von Bernd Grabowski
Von der Knochenarbeit in der Leichtindustrie zum Arbeitslosenschicksal in der Nachwendezeit
Petra Clemens:
Die aus der Tuchbude
Alltag und Lebensgeschichten Forster Textilarbeiterinnen.
Cottbusser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, Band 6, hrsg. von Günter Bayerl.
Waxmann Verlag, Münster 1998, 148 S.
Ein Geschichtsbuch, so hört man manchmal, könne nur langweilig geschrieben sein, soziologische Untersuchungen lassen sich keinesfalls in die Reihe Spannend erzählt einordnen. Denn Wissenschaft und leichte Lesbarkeit schlössen sich gegenseitig aus. Das mag sicherlich auf manches gewichtige Werk zutreffen, nicht aber auf den wichtigen Studienband von Petra Clemens.
Der 1950 geborenen Kulturwissenschaftlerin ist es gelungen, die (Alltags-)Geschichte der Forster Textilindustrie, insbesondere deren Umbruch - oder besser gesagt: Abbruch - um 1990, an Einzelschicksalen ungeschminkt zu demonstrieren. So läßt sie eine ehemalige Zwirnerin, Jahrgang 1909, ausführlich aus ihren Erinnerungen berichten, befragt mehrere jüngere Frauen und einen Meister. Auf geschickte Weise wechseln O-Ton-Zitate - gut ausgewählte markante Ausdrücke, ganze Sätze oder längere Darstellungen - mit referierenden und kommentierenden Abschnitten ab, so daß sich beim Lesen keine Ermüdungserscheinungen einstellen und zugleich eine hohe Informationsdichte bei aller Anschaulichkeit und Originalität gewährleistet wird. Es ist eindrucksvoll, teilweise erschütternd, was die Frauen aus ihrem Leben, von ihrer früheren Arbeit und der jetzigen Arbeitslosigkeit erzählen und auch wie sie es erzählen. Denn die Autorin hat die wörtliche Rede nicht geglättet oder geschönt, nicht sprachliche Fehler und Nachlässigkeiten eliminiert, sondern die Mundartform, die spezifische Sprechweise beibehalten. Selbst aus der Verweigerung von näheren Auskünften wie von Antworten überhaupt hat sie allgemeine Fakten wie auch persönliche Befindlichkeiten rekonstruiert.
An Hand von Beispielen wird deutlich, daß die Leichtindustrie Knochenarbeit bedeutete, wie die Kriegs- und Nachkriegszeiten, die Jahre der Weltwirtschaftskrise und der DDR-Ära sich in Forst gestalteten. Der Leser erhält Einblick in Technik und Technologie der Textilproduktion wie in die Probleme mit der Planerfüllung bei großenteils veralteten Maschinen, Anlagen und Gebäuden. In dem Gefüge von Arbeit, Politik und Alltag mit seinen Kontinuitäten, Abbrüchen und Wandlungen kommt immer wieder die Sprache auf die Gegenwart, also den (leider nicht exakt angegebenen) Zeitraum der Untersuchung, der vermutlich um 1995 liegt.
So resümiert Frau Jurisch, eine im neunten Lebensjahrzehnt stehende Rentnerin: Ich wer Ihnen ganz ehrlich sagen, jetzt gehts mir erst gut. Ich könnt mir kaufen, was ich wollte. Vorher hatten wir ja kein Geld. Ich hab ja allein verdient. Für andere der älteren Gesprächspartnerinnen ist das Neue oftmals das Alte: Die Arbeitslosigkeit. Das kennen wir ja schon, meint eine. Die meisten können und wollen sich nicht mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes abfinden. Frau Wenzka spricht auch für viele ehemalige Kolleginnen, wenn sie im Zusammenhang mit ihrer (vergeblichen) Arbeitssuche bekennt: Zu Hause, das befriedigt mich auf keinen Fall. Dabei - so wird im folgenden deutlich herausgestellt - geht es den Frauen nicht nur ums Geldverdienen, sondern vor allem um ein sinnerfülltes Leben, um die soziale Einbindung in eine Brigade. Der Doppelbelastung in Beruf und Familie entspreche auch eine Doppelerfahrung, die viele Frauen nicht missen möchten.
Der individuellen Sicht der befragten Maschinenarbeiterinnen fügt die Autorin ein auch aus Archivdokumenten und wissenschaftlichen Untersuchungen gespeistes Bild der allgemeinen Entwicklung und der jetzigen Situation von Region und Stadt sowie Ausführungen über die Forster Tuchfabriken und ihre Beschäftigten hinzu. Verwoben mit den Schicksalen einzelner, ist damit ein facettenreiches farbiges Gemälde entstanden, das den Betrachter einbezieht, das keine Kontemplation aufkommen läßt.
Einen weiteren Überblick vermitteln die den Text ergänzenden Tabellen und Statistiken. Fotos dokumentieren auf eindrucksvolle Weise den Einschnitt 1990: einst Stadt der Textilindustrie, jetzt Stadt der leeren (bzw. als Einkaufscenter umgebauten) Fabrikhallen. Schade zwar, daß manche Aufnahmen nicht beschriftet sind, aber als Genrebilder erfüllen sie dennoch voll ihren Zweck. Die bei manchen Bildtiteln trotz aller Sorgfalt doch übersehenen wenigen Druckfehler will der Verlag in der zweiten Auflage, die dem sowohl mit wissenschaftlicher Akribie als auch mit Herzblut geschriebenen Buch zu wünschen ist, korrigieren.
Wenn auch hier geographisch Forst und die Niederlausitz, von der Sache her die Tuchfabrik und die Textilarbeiterinnen im Mittelpunkt stehen, so haben die Grunddaten in ihrer Tendenz ebenso Gültigkeit für andere Gegenden Ostdeutschlands, für andere Wirtschaftsbereiche und teilweise auch für die männlichen Arbeiter. Das erhöht den Wert dieses verdienstvollen Forschungsberichtes, macht ihn interessant weit über den Raum Forst hinaus.