Eine Rezension von Gunther Hildebrandt


Synthese aus neuer Perspektive

Wolfgang J. Mommsen:

1848 - Die ungewollte Revolution

Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830-1849.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1998, 333 S.

Wolfgang J. Mommsen ist ein bedeutender Spezialist auf dem Gebiet der Imperialismusforschung und des deutschen Kaiserreiches. Er war u.a. Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London und Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands.

Auch ohne die Vormärzzeit und die Revolution 1848/49 (Ausnahme: England) näher erforscht zu haben, darf M. als profunder Kenner des 19. und frühen 20.Jh. gelten. Mit seinem Buch legt er eine übersichtliche, verständlich geschriebene Darstellung zu dieser Zeit vor, die weniger auf vollständige, allenfalls auf eine paradigmatische Erfassung des Gegenstandes aus ist. „Die Ereignisse in der deutschen Staatenwelt stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen, doch sind diese eingebettet in die Darstellung der Entwicklungen im übrigen Europa.“ (S. 7) Umfang und Vielgestaltigkeit der revolutionären Bewegungen, aber auch der zur Verfügung stehende Raum erschwerten es, eine kompakte Abhandlung vorzulegen. Dennoch hat es M. verstanden, die von ihm ausgewählten Handlungsabläufe und Probleme, über deren Relevanz sich im einzelnen durchaus streiten läßt, durchaus auf Grundfragen der Umwälzungsepoche hinzulenken ( z. B. Liberalismus und radikale Demokraten, soziale Probleme in der bürgerlichen Umwälzung, nationale Bewegungen und bürgerliche Revolution). Die Herausbildung einer nach westeuropäischem (englischem) Muster geprägten modernen „civil society“ steht im Mittelpunkt, die bürgerliche Verfassungs- und Reformbewegung bildet folglich den Maßstab des Urteils. Die Formulierung des Untertitels (die „ungewollte Revolution“) zeigt an, daß der Autor hier den sachlichen Schwerpunkt setzt. Unkritisch sieht Mommsen deshalb die Liberalen nicht. Die Revolutionsfurcht des Bürgertums war unberechtigt, schreibt er. Aber sie ergab sich aus der Situation. Das Revolutionssyndrom der bürgerlichen Klasse wurzelte, wie bekannt ist, vor allem in ihrer historischen Erfahrung mit der Französischen Revolution. Abwertend, wenn auch hier nicht ohne Ambivalenz, sind demzufolge viele Urteile des Autors über die „radikalen Demokraten“ (in ihrer Mehrheit kleinbürgerliche Demokraten): „realitätsfern“, vom Nationalismus befallen, der sich in gewaltsamen Aktionen ausgetobt habe (in der Schleswig-Holstein-Krise) (S.232).

Die oft über den engeren Gegenstand hinausreichenden Ausführungen des Autors, beispielsweise über den Zusammenhang von revolutionärer und nationaler Bewegung, haben Gewicht (Kap.X). Die Feststellung von der inhärenten Aggressivität des nationalen Denkens gegenüber rivalisierenden Nationen (S.221) verrät ohne Zweifel Hellsichtigkeit. Die eindringlichen Ausführungen über die Notwendigkeit eines friedlichen und freundschaftlichen Miteinander, einer Gemeinschaft der Nationalstaaten, deuten einen vernünftigen Weg an, der sich sowohl von einer nur euphorisch verstandenen Globalisierung als auch von einem womöglich pseudohistorisch untersetzten Nationalismus abhebt. Ob dieses Ziel heute wirklich schon in erreichbare Nähe gerückt ist, wie der Verfasser meint, mag an dieser Stelle offenbleiben. 1848 verflochten sich vor allem in Ost- und Südeuropa der Emanzipationskampf unterdrückter Völker mit der Befreiungsbewegung von nationalen und ethnischen Minderheiten. Mommsen faßt zusammen: „Der Zusammenprall von revolutionären Nationalbewegungen unterschiedlicher Qualität und Stoßrichtung ... machte eine friedliche Regelung der nationalen Konflikte in der europäischen Staatenwelt nahezu unmöglich. Die revolutionären Kräfte hätten ohne die Schubkraft der nationalen Bewegung nicht über die traditionellen Gewalten obsiegen können; aber gleichzeitig gilt, daß die nationalen Bewegungen sich gegenseitig ausmanövrierten und es den konservativen Mächten leicht machten, die Revolution schließlich gewaltsam zu unterdrücken.“ (S.222)

Die Bedeutung des Buches liegt also weniger in neuen Forschungsergebnissen als in der Vermittlung der Sichtweise des Autors, seiner Zusammenschau auf die Revolution nicht als „Produkt zielbewußter revolutionärer Aktionen“, sondern als „Implosion der über-kommenen Staatsordnung auf dem europäischen Kontinent“ (S.17), einer „Synthese aus einer neuen Perspektive“. Sein kurzer Ausblick auf die Fortwirkung des Erbes von 1848 blendet die Brechungen und Verwerfungen dieser Traditionslinie in der deutschen Geschichte bis 1945 nicht aus. Der Rest freilich bleibt summarisch.

Manche Unebenheit hätte sich sicher vermeiden lassen: Zitiert wird häufig nach Sekundärquellen, oder aber es werden überholte Handbücher benutzt (Schwarz, Biographisches Handbuch der Reichstage); im Personenregister werden Friedrich und Heinrich v.Gagern verwechselt (S.140); P.A.Pfizers „Briefwechsel zweier Deutscher“ mutiert zum „Briefwechsel zweier Freunde“.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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