Eine Rezension von Wolfgang Voigt


„Ein Reif aus Dreck und Letten“ oder „Das Unglück der Könige“

Theodor Heuss: 1848. Die gescheiterte Revolution

Neuausgabe mit einem Geleitwort von Richard von Weizsäcker. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998, 251 S.

Der 150. Jahrestag der Revolution von 1848/49 war auch Anlaß, dem Konzert der in diesem Jahr in der Bundesrepublik erschienenen Revolutionsbücher eine weitere Stimme hinzuzufügen und den bereits 1948 herausgegebenen Band des späteren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss erneut aufzulegen. Hierbei ging es wohl weniger um die von Heuss gebotene Darlegung des damaligen Revolutionsgeschehens in seiner europäischen Dimension - seit den letzten 50 Jahren ist die Forschung zu 1848/49 ein großes Stück vorangeschritten -, sondern mehr um eine politische Demonstration.

Der erste Bundespräsident, der zudem eine gediegene Arbeit über die bürgerliche Revolution vorgelegt hat, eignet sich ganz besonders, um die heutige, allenthalben erfolgende Berufung der Bundesrepublik auf 1848/49 historisch zu legitimieren. Daß diese Berufung vornehmlich die Frankfurter Nationalversammlung und die von ihr formulierten politischen Grundrechte betrifft, spiegelt der Band ebenso wider, wie er Akzente für die Gegenwart setzt. Denn, wie Richard von Weizsäcker im Geleitwort schreibt: „Die Geschichte steht nicht still. Gerade im Lichte neuer Fortschritte, Fehler und Einsichten lohnt es auch heute, sich in die faszinierende Arbeit von Theodor Heuss über die Paulskirche zu vertiefen.“ (S. 3)

Nach einem kurzen Rückblick auf die politisch-territoriale Situation in Deutschland seit Beginn des 18. Jahrhunderts (Heilige Allianz; Hambacher Fest; Junges Deutschland; Frankfurter Wachensturm; Göttinger Sieben usw.) widmet sich der Autor intensiver dem unmittelbaren Vormärz, jener „seelisch-geistigen Atmosphäre“, die „vor dem politischen Durchbruch und Umschwung herrschte“ (S. 57). Georg Herwegh, Franz Dingelstedt, Ferdinand Freiligrath, Robert Putz und Heinrich Hoffmann von Fallersleben werden als politische Dichter, Justus Liebig und seine „Agrikulturchemie“ von 1840 oder Friedrich List mit seinem „Nationalen System der politischen Ökonomie“ als „Pioniere einer realistischen Denkart“ vorgestellt (S. 63). „Wilhelm Weitling aus Magdeburg gespenstert durch den Vormärz [eine Anspielung auf den ersten Satz des Kommunistischen Manifests? - W. V.], mit Schriften und Traktätchen, in denen ein sektiererischer Missionseifer, der Liebe und Gerechtigkeit predigte, einem sehr rationalistischen Wirtschafts- und Sozialsystem sich vermählte.“ (S.66f.) Die Einschätzungen des Wirkens Wilhelm Weitlings sind heutzutage nicht zuletzt dank der Forschungen von W. Seidel-Höppner wesentlich differenzierter.

Die „wirkungsvollste Revolutionsschrift der deutschen Erhebung“ blieb, so der Autor, „schier beziehungslos zum Kern der Ereignisse ..., welch leidenschaftlichen Anteil ihre Verfasser auch an diesen genommen haben“ (S. 73) - gemeint ist das Kommunistische Manifest von Marx und Engels. Grundsätzlich aber hebt sich die Arbeit von Heuss, der nicht nur dem Manifest, sondern auch der „Konzeption des historischen Materialismus“ zubilligt - auch wenn „die revolutionäre Ungeduld von Marx und Engels“ deren Urteil trübte (S. 73) -, „für die geschichtliche Bewertung der achtundvierziger Geschehnisse von Gewicht“ zu sein (S.72), wohltuend von manch anderen aktuellen Veröffentlichungen über die Revolution von 1848 ab, in denen Marx, Engels und der Bund der Kommunisten nicht einmal erwähnt werden.

Ausführungen über die revolutionären Ereignisse in Sizilien (12. Januar 1848), Paris (25.Februar 1848), Wien (12./13. März 1848) und Berlin (18./19. März 1848), die in ihrer Gesamtheit die europäische Dimension der revolutionären Situation im März 1848 verdeutlichen, folgen die umfangreichsten Darlegungen des Autors über das Wirken des Vorparlaments und der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.

Wie die Frankfurter sollte auch die preußische Nationalversammlung, die am 12. Mai 1848 in Berlin in der Singakademie zusammentrat, eine Verfassung erarbeiten. Vollzog sich dies in Frankfurt am Main in parlamentarischen Klubs, so war die in Berlin „eine Angelegenheit der Volksbewegung“ (S. 124), die sich schließlich in der Erstürmung des Zeughauses entlud.

In Frankfurt am Main erarbeitete das Parlament in langwierigen Beratungen die „Grundrechte des deutschen Volkes“, die am 21. Dezember 1848 beschlossen wurden, sowie eine „Verfassung des deutschen Reiches“, die am 27./28. März 1849 verabschiedet wurde. Sie war trotz mancher Einschränkung die fortschrittlichste deutsche Verfassung des 19. Jahrhunderts. Ihre Durchsetzung hätte einen bürgerlich-liberalen Nationalstaat begründet. Doch das starre Festhalten der Paulskirchen-Liberalen am Prinzip der Vereinbarung mit den Fürsten besiegelte letztlich das Schicksal der Revolution.

Der preußische König, der mit der Auflösung der preußischen Nationalversammlung am 5. Dezember 1848 schon längst den „Weg zum Staatsstreich“ (S. 141) beschritten hatte, lehnte die ihm von der Paulskirche angetragene Kaiserkrone am 3. April 1849 mit der Bemerkung ab, sie sei „ein imaginärer Reif, aus Letten und Dreck gebacken“ (S. 175).

Das beschlossene Grundgesetz mit Hilfe der Volksbewegung durchzusetzen, die sich im Frühjahr 1849 in der Reichsverfassungskampagne dafür einsetzte, davor schreckten die Liberalen zurück.

Mit der schließlichen Sprengung des Rumpfparlaments in Stuttgart und mit der militä-rischen Niederwerfung der bewaffneten Volkserhebung der badisch-pfälzischen Revolutionäre (am 23. Juli 1849 kapitulierten die Verteidiger der Festung Rastatt, wohin sich die Reste der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee zurückgezogen hatten) war das „freiheitlich-demokratische Grundwesen der deutschen Revolution gelähmt, erstickt“ (S.188). Die Feststellung Theodor Heuss’, „daß im Juni 1850 noch einmal eine konstituierende deutsche Nationalversammlung zusammentrat, in der Barfüßerkirche in Erfurt“, wovon „sich das geschichtliche Bewußtsein der Deutschen kaum eine Erinnerung“ bewahrt hat (S. 188), verweist auf ein noch immer bestehendes Desiderat der historischen Forschung.


© Edition Luisenstadt, 1998
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