Eine Rezension von Kurt Wernicke


Ein Standardwerk zur Berliner Märzrevolution

Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848: eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution

J. H. W. Dietz Verlag, Bonn 1997 (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e. V., Braunschweig/Bonn), 1008 S.

Endlich, nach anderthalb Jahrhunderten - exakt zum 150. Jahrestag des Ereignisses -, liegt ein vom Fachmann lange erwartetes Standardwerk zur Berliner Märzrevolution vor - nein, genauer: Es liegt nun das Standardwerk vor! Bis dato war das bedeutendste Ereignis in der Berliner Geschichte des 19. Jahrhunderts im wesentlichen im Hinblick auf eine umfassende und detailreiche Gesamtdarstellung des Geschehens in zwei Publikationen präsent, die ihr Entstehen der privaten Sammlung unmittelbar im Zentrum des Geschehens Stehender verdankten: Adolf Wolffs dreibändiger „Revolutionschronik“ (1851-1854) und Teil 2 (Bd. 3 u. 4) von Adolf Streckfuß’ zweiteiligem Werk „Berlin im 19. Jahrhundert“ (1867-1869). Aber beide verdienstvollen Zusammenfassungen haben gravierende Nachteile; denn Wolffs Darstellung endet bereits im Juli 1848 (weil er für einen 4. und 5. Bd. keinen genügend mutigen Verleger fand!), und Streckfuß bleibt im wesentlichen bei den politischen Vorgängen (kein Wunder - war er doch selbst einer der an der politischen Front aktiv Handelnden und sah demgemäß die Geschehnisse vorrangig aus diesem Blickwinkel).

Der Titel des Vorliegenden verspricht hingegen eine Gesamtschau auf die Verflechtungen von gesellschaftlichen und politischen Komponenten des Gesamtgeschehens - und er verspricht keineswegs zuviel, sondern eher zuwenig: Behandelt werden auch ausgiebig die wirtschaftlichen Komponenten. Der Autor, aus der Schule Reinhard Rürups, Professor für Geschichte an der TU Berlin, hervorgegangen und wissenschaftlicher Assistent an dessen Lehrstuhl (inzwischen dort Privatdozent), offeriert der interessierten Öffentlickeit hiermit seine Habilitationsschrift. Zu ihrer Abfassung muß er eine erkleckliche Summe an Jahren aufgewandt haben, denn die beigebrachte Quellenbasis ist geradezu enorm: 14 Archive sind von ihm besucht und z.T. ganze Ministerialbereichsbestände dort durchgeackert worden, der Jahrgang 1848 von 30 Zeitungstiteln ist ausgewertet worden, die engbedruckten Seiten der Liste benutzter Literatur kommen auf die stattliche Zahl von 28 ... Und eine schier unübersehbare Menge wissenschaftlicher Anmerkungen belegen eindrucksvoll, daß diese Quellen auch alle verarbeitet wurden (wobei dem Verlag Dank gesagt werden muß für das heutzutage so selten gewordene wissenschaftlerfreundliche Layout: Die Anmerkungen sind nicht, wie üblich geworden, in einen schwer handhabbaren Anhang verbannt, sondern auf der jeweils dazugehörigen Textseite als Fußnoten lesbar. Wer auf sie verzichten will, kann aber nichtsdestoweniger den Haupttext zügig lesen!).

Man muß nicht unbedingt H.s Grundthese teilen, mit der er sich der Gesamteinschätzung der Berliner Märzrevolution (die er mit Recht nicht auf den März begrenzt, sondern in kurzer auf- und langer absteigender Linie bis zum Dezember zieht) nähert: Die äußerst heterogene Zusammensetzung und die extrem unterschiedliche Motivation der kurzlebigen Quasi-„Einheitsfront der Revolution“ im März ließ ein auf den Punkt gebrachtes Revolutionsprogramm gar nicht zu; das führte notwendig zum sofortigen Auseinanderklaffen der Interessen der im Barrikadenkampf des 18./19. März siegreich gebliebenen Seite, die trotz lautstarken Getöses von Brüderlichkeit mehrheitlich von erheblicher Angst vor den städtischen Unterschichten geprägt war. Diese Mehrheit war auf Ruhe, Ordnung, geregelte Bahnen, Reform und Kompromiß mit den bisherigen Entscheidungsträgern fixiert. Als die sozialen Träger dieser Tendenz macht H. das Wirtschaftsbürgertum, die übergroße Mehrheit des Bildungsbürgertums und jene handwerklichen Gewerbetreibenden aus, die in Zunftnostalgie befangen waren (unter den Meistern war das zweifellos der weitaus größere Teil). Ihnen schreibt er das ewige Zurückweichen vor der zunächst - angesichts des schnellen und scheinbar durchschlagenden Erfolgs der darob geradezu euphorischen und deshalb vertrauensseligen Oppositionsfront - geschickt taktierenden, dann immer bewußter auftretenden Reaktionspartei mit dem König an der Spitze zu, das erst zu einer deutlicheren Polarisierung der Kräfte führte, als die Konterrevolution die Fäden schon wieder fest in der Hand hielt. Die auch in sich selbst differenzierten Berliner Unterschichten, die auf dem Höhepunkt der Krise zwischen dem immerhin vom Volke gewählten Parlament und der höfischen Reaktion Ende Oktober/Anfang November selbst ihren Wortführern im „Demokratischen Club“ und in der parlamentarischen Linken nicht mehr trauten, fanden nie zu einer effizienten einheitlichen Führung (von der Art des Jakobinerclubs in der Französischen Revolution!) und konnten so nie als eigenständiger politischer Faktor agieren - obgleich sich Ansätze in der Berliner Arbeiterbewegung mit ihrem noch diffusen Klassenbewußtsein bildeten. So war der Ausklang der Revolution für Berlin schon in den ersten Tagen nach der Barrikadennacht in groben Umrissen vorgezeichnet: Die Ernte einfahren würden schließlich jene Kräfte, die auf der berühmt-berüchtigten „Bahn des Fortschritts im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten“ marschieren würden, die sie 1847 schon im Vereinigten Landtag für jeden sichtbar abgesteckt hatten.

Man muß sich, wie gesagt, nicht unbedingt das H.sche Erklärungsmuster ganz und gar zu Eigen machen (was der Rezensent allerdings, wie er freimütig zugibt, gern tut - wenn auch mit geringen Einwänden hinsichtlich des Stellenwerts der traumatischen 1848-Erfahrung des Konservativismus!), aber man kann künftig an den Ergebnissen des voluminösen Werkes in keinem Fall mehr vorbeigehen. Dem Rezensenten ist z.B. nicht bekannt, daß sich vor H. schon einmal jemand der Mühe unterzogen hätte, die Kurse an der Berliner Börse im Revolutionsjahr in Beziehung zu den politischen Ereignissen zu setzen (die Untersuchung macht klar, daß die Börsenjobber viel mehr auf Paris schielten statt auf Berlin, Wien oder gar die Paulskirche; und daß für sie die Messen mit dem Ausgang der Pariser Junischlacht gelesen waren ...). Die Materialfülle ist nur das eine - auch die mit minutiöser Akribie erarbeiteten 15 statistischen Tabellen können künftig bei Urteilen zum Thema „Berlin 1848“ nicht mehr ignoriert werden: Tab. 5 (S. 277) z.B. weist die Sozialstruktur und das Durchschnittsalter der Gründungs- und Vorstandsmitglieder der größten politischen Vereine in Berlin zwischen März und November aus - jetzt wissen wir, daß im „Demokratischen Club“ Journalisten, Literaten und Privatdozenten mit 48% den größten Anteil an den Führungskräften stellten, in der Führungsetage des (liberalen) „Konstitutionellen Clubs“ diese Berufsgruppe gleichstark mit höheren Beamten (je 35%) vertreten war und im konservativen „Preußenverein“ Wirtschaftsbürgertum mit 35,9%, dicht gefolgt von Handwerksmeistern (34,6%), den Ton angab (S. 277) - das Bürgertum war also nachweislich in dieser bürgerlichen Revolution ziemlich einseitig dort zu finden, wo man froh war, daß man die Revolution als eine Angelegenheit des 18./19. März abhaken konnte ... In der auch zum 150.Jahrestag der 48er Revolution wieder strapazierten Divergenz von „Straße“ und „Parlament“ (typisch auch wieder 1998: nicht in Berlin spielt sich der zentrale Gedenk-Festakt ab - es symbolisiert ja für 1848 „die Straße“ - sondern in Frankfurt a.M., dessen Paulskirche für „das Parlament“ steht!) wirft die gewichtige „Parlaments“-Fraktion der deutschen Historiker traditionell der „Straße“ deren Aktionismus vor, der die liberalen Parlamentarier verunsichert in die Arme des Kompromisses mit den alten Mächten getrieben habe; da räumt, wenigstens am Beispiel Berlins nunmehr kaum widerlegbar, H. mit dem nüchternen Nachweis auf, daß es keineswegs der Aktionismus der Unterschichten war, der das kompromißlerische bürgerliche Verhalten verursachte, sondern deren bloße Existenz. Dick zu unterstreichen ist daher H.s Resümee, daß bei der Frage nach Erfolg oder Mißerfolg der Berliner Revolution als Maßstab die Vorstellungen der Beteiligten („und nicht die Wünsche nachgeborener Historiker“) (S. 875) zur Antwort zu dienen hätten - und da ist es der Liberalismus, der durchaus mit einer Erfolgsbilanz dasteht: Der von ihm schon im Vormärz als höchstes aller denkbaren Güter ersehnte Verfassungsstaat wurde ihm im Ergebnis der Märzrevolution endlich beschert und sogar die Fiktion eines Übereinkommens zwischen Krone und Parlament bei dessen Entstehung nach außen hin beibehalten. Mehr wollte der preußische Liberalismus nicht wirklich - wenn er auch rituell die Frage nach dem deutschen Nationalstaat stellte. Es muß H. neben allen anderen Verdiensten auch dies als Verdienst angerechnet werden, daß er das Tabu um die vorgeblich alle Schichten und Kräfte der vormärzlichen Oppositionsbewegung gleichermaßen umfassende und daher auf Tod und Teufel verbindende Nationalbewegung ankratzt und anhand Berliner Äußerungen im Jahre 1848 zu bedenken gibt, daß das spezifische Preußentum mitnichten eine ausschließliche Angelegenheit der ostelbischen Junker war: Der deutsche Nationalstaat war es trotz der zahllosen schwarzrotgoldenen Fahnen nun gerade nicht, der die Kämpfer des 18./19.März vordringlich auf die Barrikaden trieb.

Was es seiner Meinung nach war, benennt H. mit den drei Faktoren: Wut auf das schon tagelang praktizierte Wüten des Militärs gegenüber waffenlosen Berlinern aller Schichten; Verlangen nach Freiheiten, wie sie woanders schon vorhanden waren: Presse-, Vereins-, Koalitions- und Versammlungsfreiheit; Vorstellungen von obrigkeitlichem Eingreifen zur Behebung der sozialen Not. Damit hat er ohne Zweifel die Motive für den bewaffneten Kampf so allgemein subsumiert, wie es überhaupt möglich ist - und wie sie wirklich nur für einen kurzen Augenblick das Phänomen möglich machte, das tatsächlich für einen einzigen Fall belegt scheint: daß auch ein vornehm gekleideter Herr mit Hand anlegte beim Bau einer Barrikade! Dieser nicht namentlich belegte barrikadenbauende Vertreter der Oberschicht geistert durch die zeitgenössischen Reportagen zum Barrikadenkampf wie das inzwischen sprichwörtliche „alte Mütterchen“ als Ingredienz journalistischer Leistungen bis in unsere Gegenwart. Der von federfleißigen Literaten ins Unermeßliche vervielfältigte gutgekleidete Herr suggerierte die harmonische Einheitsfront der Veränderungswilligen, die mit Ausnahme namentlich bekannter Bösewichter (zumeist in der bisherigen engeren Umgebung des eo ipso „guten“ Königs) sich nach dem Abzug des Militärs brüderlich in den Armen zu liegen hatten und diese alles überdeckende Brüderlichkeit dann auch am 22. März bei der Beisetzung der zivilen Revolutionsopfer vorbildlich demonstrierten (der 1. Januar 1959 in Havanna läßt ebenso grüßen wie der 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz). Man kann H. gar nicht genug danken, daß er diesen zur Einlullung der gefürchteten Unterschichten bewußt geschürten Brüderlichkeitstaumel als ein Mittel zum Zweck entlarvt, das schon am 30. März mit dem Wiedereinzug von Militär nach Berlin seine Aufgabe erfüllt hatte und im April bei der Entscheidung um direktes oder indirektes Wahlrecht endgültig beiseite gepackt wurde. Die Hetzjagd aller Fraktionen des Bürgertums gegen den Herausgeber der „Berliner Zeitungshalle“, Gustav Julius - er hatte es gewagt, in einem Leitartikel vom 23. März der Verbrüderungsbesoffenheit die nüchterne Wahrheit entgegenzustellen, daß es im realen Leben der Gesell schaft längst den Bruch zwischen Bürgern und Arbeitern als zwei sich entgegenstehenden Klassen gäbe -, fügt sich paßrecht in dieses Erscheinungsbild ein.

Daß eine derart umfassende Darstellung wie die von H. vorgelegte dennoch ganz natürlich keinen Anspruch auf komplette Vollständigkeit liefern kann, beweist sich auch in diesem Fall erneut: Das Berliner Wochenblatt „Der Beobachter an der Spree“ ist H. entgangen. Deshalb reitet er auch auf der Behauptung herum, die Berliner Barrikadenkämpfe hätten sich durchweg in bürgerlichen und überhaupt nicht in proletarischen Wohngebieten abgespielt - in welcher Hinsicht der genannte „Beobachter“ durch die Schilderung eines Augenzeugen von den Kämpfen in der Weber- und Waßmannstraße überzeugend eines Besseren belehrt. Das Auffinden des Protokolls des Berliner Handwerkerkongresses vom 18. bis 20. Juni durch den Wiener Rechtshistoriker Harald Steindl, seine substantielle Wiedergabe in der „IWK“ und der vom Rezensenten auf solcher Basis verfaßte Essay zu den Anstößen, die von dem Berliner Kongreß aus bis in die Paulskirche gelangten („Garantie der Arbeit“ in: Studien zur Geschichte, Bd. 10, Berlin 1987), sind der Aufmerksamkeit des Verfassers offenbar entgangen. Kaum hoch genug einzuschätzen ist H.s Bemühen, mittels eines Anhangs „Kurzbiographien“ die bedeutendsten Protagonisten des Geschehens plastisch werden zu lassen und ihr Engagement in der 48er Bewegung konkret zu benennen- 127 biographische Abrisse liegen so vor, die man sich sonst mühsam an den verschiedensten Orten zusammensuchen oder erschließen müßte. Daß dabei auch mancher Schnitzer auftritt, mindert das Verdienst der Zusammenstellung nicht. Die groben Irrtümer zu Edmund Monecke wären allerdings leicht zu vermeiden gewesen, wenn H. die kleine Arbeit von Hans-Joachim Beeskow zur Kenntnis genommen hätte, die jener 1973 als Nr. 187 der „Hefte aus Burgscheidungen“ vorlegte: „An der Seite der jungen Arbeiterklasse. Stud. theol. et phil. Edmund Monecke“. Hätte H. die auch im Literaturverzeichnis aufgeführte biographische Skizze des Rezensenten über Bisky benutzt, wäre er nicht (S. 174, Anm.) der „pommerschen Heimat“ aufgesessen, die allein der absichtlichen oder unabsichtlichen Gedächtnisschwäche des alten Born geschuldet ist. Großer Dank gebührt H. dafür, daß er gerade noch rechtzeitig vor einem absehbaren neuen Anschwellen der Frageflut nach dem Ursprung des Beinamens „Kartätschenprinz“ für den Prinzen, nachmaligen König und dann sogar Kaiser Wilhelm (I.) die wissenschaftlich belegte Antwort liefert: Geprägt hat das Wort der Potsdamer Gerichtsangestellte Maximilian Dortu (der am 18. März in Berlin gefochten hatte, gefangengenommen und erheblich mißhandelt worden war) am 12. Mai in einer Sitzung des Politischen Clubs von Potsdam. Im Revolutionsmonat August wurde er dafür wegen Beleidigung des Prinzen zu 15 Monaten Festungshaft verurteilt - der er sich allerdings entzog (S. 342, Anm. 64). Daß Dortu als Kriegsgefangener der preußischen Armee in Baden angesichts dieses den Oberbefehlshaber der Interventionsstreitmacht - Wilhelm, Prinz von Preußen - und den Bataillonskommandeur der badischen Volkswehr, Dortu, verbindenden Tatbestandes keine Chance hatte, der Vollstreckung des am 31. Juli 1849 verhängten standrechtlichen Todesurteils wegen Landesverrats - etwa durch Gnadenerweis - zu entgehen, leuchtet ein. Oder nicht?


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite