Eine Annotation von Horst Wagner


Poppe, Grit:

Andere Umstände

Berlin Verlag, Berlin 1998, 300 S.

Brussig hatte den überdimensionalen Penis seines Helden bemüht, um begreiflich zu machen, warum die Mauer so plötzlich fiel. Grit Poppe, selbst Teilnehmerin der Wende-Bewegung und eine Zeit lang Geschäftsführerin von „Bündnis 90“ im Lande Brandenburg, läßt die Ich-Erzählerin ihres literarischen Erstlings erst reihenweise Männer vernaschen und zumindest zwei von ihnen ermorden, bis sie auf Seite 139 „ihre verletzte Seele aus dem Leib brüllen“, ins „Wir sind das Volk“ einstimmen und einen Aufruf „Aufbruch 89“ unterschreiben darf. Schwankt man zunächst, ob man das Buch unter Erotik oder Krimi einordnen soll, wird einem zunehmend klar: Was da in eine in San Francisco spielende Rahmenhandlung eingebettet ist, soll wohl doch so eine Art Wende-Roman sein. Oder vielleicht eine Parodie derselben. Auf Letzteres lassen zum Beispiel die Passagen über die Oktober-Demos oder die Versammlungen des Neuen Forums schließen. Wie dem auch sei. Jedenfalls gehört die Mila genannte Ich-Erzählerin, noch ehe sie selbst in andere Umstände kommt, zu denen, die ihrem Land andere Umstände bereiten wollen. Ob die schließlich erreichten ihren Vorstellungen entsprechen, läßt uns die Autorin bezweifeln. Unwidersprochen läßt sie den Forum-Aktivisten Victor, einzig wirklich geliebten unter Milas Liebhabern, zu Nachwendezeiten erklären: „Wir haben verloren, Mila. Die Chance ist verpaßt, die Welt ein bißchen zu verändern. Wir betreten die alten ausgetretenen Pfade, statt der Kommunisten regiert jetzt das Geld, und die Marktwirtschaft kann nur eine Mordwirtschaft sein, weil sie die Kleinen und Schwachen frißt ... und manchmal auch tötet.“ (S.218) Worum geht es sonst noch in diesem mit Unterstützung des brandenburgischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur entstandenen Roman? Abgesehen von den skurrilen Mordgeschichten und ein paar Stasischablonen vor allem um unerwiderte Liebe, sexuelle Praktiken und die Suche nach einem „tauglichen Samenspender“, um Schwangerschaft und Geburt, um die Tochter Alice und die Katze Smokie. Stilistisch erinnert das Ganze streckenweise an die Erfolgsromane der Hera Lind, nur alles ein bißchen eigenwilliger. Vor allem verzichtet Poppe auf den Positiv-Denken-Realismus der Lind und will ihr Buch wohl eher als eine Art Gesellschaftssatire verstanden wissen. Dabei sind die Schilderungen aus dem Alltag der untergehenden DDR ziemlich stimmig. Nur eben ein bißchen übertrieben oder verschlimmert. Aber das darf oder muß Satire ja wohl. Die Liebesszenen sind zumeist sehr direkt, dabei aber nicht ohne Romantik. Und es gibt originelle Formulierungen wie diese: „Das Verlieben ... entsteht im Kopf und sickert hinunter zum Herzen und von dort zwischen die Beine.“ (S. 293) Alles in allem ein Buch, das man nicht ohne Vergnügen und mit zunehmendem Verständnis liest.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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