Eine Annotation von Bernd Heimberger


Meier, Andreas:

Jugendweihe - JugendFEIER

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998, Bd. 30595, 276 S., 29,90 DM

„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Der Spruch wurde mir mit auf den Weg gegeben. Genannt der Lebensweg. Ist das nichts? Zumal der Spruch vom Genius aus Weimar stammte. Sie erinnern sich? Auch an das Zitat, die ersten Zeilen aus Goethes Gedicht „Das Göttliche“? Derart gefirmt wurde mir ein erfolgreiches Leben in der Erwachsenenwelt gewünscht. Spruch und Gesänge und Gelöbnis sollten den weihevollen Akt würdig machen, der im größten Raum der Region, dem Kinosaal, stattfand. Die Stunde, die Feier, der Tag waren sonderbar. Obwohl die Jugendweihe Tradition in meiner sozialdemokratisch orientierten Familie hatte. Jahrzehnte zuvor hatte Vater seine Jugendweihe in Stuttgart. Er war ein atheistischer Avantgardist seiner Altersklasse. Wir, die Brüder und ich, liefen in der DDR also nicht nur der Mehrheit hinterher. Daß sich auch die Nazis des Nimbus der Jugendweihe bemächtigt hatten, blieb uns verborgen, weil’s verborgen wurde. Der Staatspartei genügte es, sich auf die besten, sprich proletarischen Traditionen der Jugendweihe zu berufen. Gemäß dem pragmatischen Prinzip: Man braucht nur, was man braucht! Die wahre Geschichte der Jugendweihe ist so wechselvoll wie die Geschichte des Jahrhunderts. Wer weiß es? Welcher Jugendliche zwischen Ostsee und Thüringen kennt den historischen Hintergrund der „DDR-Tradition“, an der seine Eltern gern festhalten? Was wir noch nie über die Jugendweihe wußten - und wissen wollten? -, breitet der Historiker, Theologe und Publizist Andreas Meier in seinem Buch Jugendweihe - JugendFEIER aus. Die Schrift ist die umfassendste Darstellung der Geschichte der Jugendweihe, die 2002 ihr 150. Jubiläum feiert. Nur in „Ost“-Deutschland? Zur Solidität und Sorgfalt der Arbeit gehört, daß sich der Autor nicht dazu hinreißen ließ, Tendenziöses zu betonen. Völlig unverständlich, daß der eher denunziative als differenzierende Untertitel „Ein deutsches nostalgisches Fest vor und nach 1989“ den Text untergräbt. Andreas Meiers Auslassungen sind ein Beitrag zur Kulturgeschichte Deutschlands, aus der die Jugendweihe nicht wie ein lästiger Krümel vom Tisch gewischt werden kann.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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