Eine Rezension von Henry Jonas
Ein Reporter auf der Spur von Folter und Mord
Antonio Tabucchi:
Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro
Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl.
Carl Hanser, München 1997, 256 S.
Antonio Tabucchi (55), in Pisa geboren, an der Universität Siena portugiesische Sprache und Literatur lehrend, ist bei uns nicht unbekannt. Fünf seiner Bücher sind bereits bei Hanser erschienen - Der Rand des Horizonts (1988), Indisches Nachtstück (1990), Wer war Fernando Pessoa? (1992), Lissabonner Requiem (1994) und Erklärt Pereira (1995) -, aber nun lernt man ihn doch noch von einer neuen Seite kennen.
Verwischen sich sonst im erzählerischen Werk Tabucchis unentwegt die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Realität und Fiktion, so daß eine Atmosphäre flirrender Vieldeutigkeit entsteht, ist sonst das Unwirkliche fast immer wichtiger als das Wirkliche und die Täuschung aussagekräftiger als die Wahrheit, so erzählt er diesmal eine vollkommen konkrete Geschichte aus der unmittelbaren Gegenwart, und zwar gradlinig, zielsicher und ungebrochen. Ist Tabucchi sonst ein Virtuose der literarischen Anspielung, der uns verunsichern will, ob sich die vieldeutige Wirklichkeit, die uns umgibt, denn tatsächlich entschlüsseln läßt, so bedient er sich hier sehr direkter, handfester Mittel, um dem Leser die Augen zu öffnen für schreiende Mißstände unseres Lebens und seine Aktivität herauszufordern. Ganz offenbar hat ihm diesmal auch der heilige Zorn die Hand geführt. Ein Roman sollte es nach eigener Aussage diesmal werden, der eine Reflexion über Mißhandlung und Gerechtigkeit darstellt, verkleidet als Thriller. Nun, für einen Thriller fehlen die gegenläufige Handlung und die überraschenden Wendungen, aber entstanden ist immerhin eine meisterliche Erzählung, die durch ihr soziales Engagement, die Kargheit der Sprache, die Klarheit der Charaktere, die Entschiedenheit der Handlung und die Präzision der Bilder besticht.
Des Autors schriftstellerische Phantasie wurde durch eine wahre Begebenheit in Gang gesetzt: In der Nacht des 7. Mai 1996 wurde Carlos Rosa, ein fünfundzwanzigjähriger Portugiese, in einem Kommissariat der Guarda Nacional Republicana in Sacavém, am Stadtrand Lissabons, umgebracht; seine Leiche wurde in einem öffentlichen Park gefunden, ohne Kopf und mit Zeichen von Mißhandlungen. Tabucchi wurde durch eine Zeitungsnotiz darauf aufmerksam, die natürlich den Mord auf dem Polizeirevier unterschlug. Er verlegte den Tatort nach Porto, nannte das Opfer Damasceno Monteiro (der Name einer Straße in einem volkstümlichen Viertel Lissabons) und machte zur Hauptfigur Firmino, den Reporter eines Lissabonner Revolverblattes, der mit der Recherche beauftragt wird.
Firmino kommt eben aus dem Urlaub, ihm ist mehr an einem Essay über den portugiesischen Neorealismus gelegen als an Storys über Verbrechen und Unfälle, die den Absatz hochtreiben, und nach dem traurigen Porto steht ihm schon gar nicht der Sinn. Widerwillig tritt er die Reise an. Aber überraschenderweise entdeckt er in Porto eine sehenswerte, reizvolle, alte Stadt. Er findet eine respektable Unterkunft bei einer kenntnis- und verbindungsreichen Wirtin, die ihm weiterhilft. Nicht ungeschickt verfolgt er erste Spuren. Er ermittelt, was die Behörden offenbar nicht wissen oder unterschlagen. Ein unerwarteter Informant erweitert seine Einsichten. Bald steht für ihn fest, daß ein Verbrechen stattfand, in das die Polizei verwickelt ist. Monteiro, Bürobote in einem Handelsunternehmen, war offenbar einem großdimensionierten Drogenschmuggel auf der Spur, in den Kommissar Titânio Silva, Leiter einer Polizeistreife, verwickelt ist. Silva ist auch Besitzer von Gaststätten und setzt von dort aus die Ware aus Hongkong in großem Stile ab. Um dieses Geschäft nicht zu gefährden, wurde Monteiro verhaftet, auf dem Revier gefoltert, erschossen und geköpft.
Zunehmend engagiert sich Firmino für den Fall. Seine täglichen Artikel erzielen Wirkung. Im Auftrag seiner Zeitung gewinnt er den berühmten Anwalt Don Fernando zum Verbündeten, der ihm ein väterlicher Lehrmeister wird. Aber auch dessen raffinierte Taktik kann nicht jene Beweise herbeizaubern, die ein handlungsunwilliges Gericht zur Überführung des Täters zu zwingen vermögen. Silva wird zwar wegen Fahrlässigkeit kurzzeitig suspendiert, von der Mordanklage aber freigesprochen. Das ist wohl auch die realistische Lösung. Aber ganz entmutigt wollte der Autor den Leser nicht entlassen. So läßt er nach Abschluß des Prozesses noch eine Augenzeugin des Mordes auftauchen, die eine Neuverhandlung bewirken könnte ...
Erzählender und beschreibender Text, Dialoge und Interviews lösen einander ab, stets drängt die Handlung zielstrebig (wenn auch eingleisig) vorwärts. Interessanteste Figur ist natürlich Don Fernando, aus reichem Adel stammend, umfassend gebildet, eine Figur von der Dimension Charles Laughtons, häßlich, exzentrisch. Der Anwalt hat seinen Lebensinhalt nun darin gefunden, Entrechtete, Benachteiligte und Zukurzgekommene, also Leute aus der Unterschicht, kostenlos zu verteidigen, weil sie sonst nie zu ihrem Recht kommen würden. Aber auch der Zigeuner Manolo, der den Rumpf der Leiche fand, die Wirtin Doña Rosa und der Sergeant Titânio Silva sind sicher und gut charakterisiert. Dabei behandelt Tabucchi Silva nicht als kriminellen Einzelfall, er läßt sein Mißtrauen zur portugiesischen Polizei überhaupt durchblicken und daß ein Habenichts grundsätzlich wenig gilt, wenn krumme Geschäfte und riskante Gewinne auf dem Spiele stehen. Der Text ist knapp gehalten, eng auf den Zweck gerichtet, enthält sich aller Abschweifungen (wenn man von der Lukács-Polemik absieht). Ein Buch, das man mit Interesse und Anteilnahme liest.