Eine Rezension von Licita Geppert


Gewißheit ohne Erinnerung

Sarah Smith: Das dunkle Haus am See

Roman. Deutsch von Mechtild Sandberg-Ciletti.

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998, 400 S.

Sagen Sie alle Verabredungen ab, schließen Sie Türen und Fenster, wenn Sie dieses Buch lesen, denn Sie werden von dieser mysteriösen Story gefesselt sein vom ersten bis zum letzten Buchstaben. „Ein Mord, ein verschwundenes Kind und eine Erbschaft, die niemand antreten darf ... Was geschah wirklich im Haus der angesehenen Bostoner Familie?“ Dies muß als Inhaltsangabe genügen, denn über alles, was sich über dieses Buch inhaltlich sagen ließe, muß der Rezensent Stillschweigen bewahren: über all die wunderbaren Winkelzüge, die er schildern, über all die vielschichtigen Personen des Romans, die er beschreiben möchte, denn alles vorher Gesagte würde die Spannung und den Zauber dieses wundervollen Romans mindern. Möge sich der Leser selbst in dieses Labyrinth der Erinnerung begeben, in dem die - zumeist sympathischen - Figuren, die den Roman bevölkern, Gefangene im Käfig ihrer uneingestandenen Ängste sind, ganz und gar unfähig, dessen unsichtbare Gitterstäbe zu durchbrechen.

Ein sorgsam gehütetes Familiengeheimnis bindet sie unauflöslich aneinander, den störrischen alten Gilbert, seinen ungeliebten Adoptivsohn Harry, die wunderschöne, aber nahezu blinde Perdita, den Freund und Arzt Charlie Adair und nun auch Alexander von Reisden. Sie alle ertragen entsagungsvoll ihre jeweiligen Lebensumstände mit mehr oder weniger deutlichem Unbehagen, aus dem vagen Gefühl der Notwendigkeit und Normalität heraus. Dennoch hat die Geschichte nichts Trostloses, obwohl alle verzweifelt nach Trost suchen. Virtuos inszeniert die Autorin ein Panorama menschlicher Abgründe und Leidenschaften, aber auch der Fürsorge, Zuneigung und Liebe in der lebendig beschriebenen Atmosphäre um die Jahrhundertwende. Der Eintritt des siebenundzwanzigjährigen Barons von Reisden in die festgefügte Gemeinschaft der Familie des seit langem verstorbenen Bostoner Unternehmers William Knight, in der jeder seine ihm zugewiesene oder selbst angenommene Rolle spielt, führt zum Aufbrechen verkrusteter Rituale und treibt Reisden ebenso wie die Familienmitglieder, aber auch deren enge Freunde, bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Wir erleben eine Art „Bäumchen-verwechsle-dich-Spiel“ mit den Identitäten, bei dem jeder den Platz des anderen einzunehmen versucht, möglichst ohne den bisher innegehabten aufzugeben. Es erscheint wie eine Endlos-Schleife von ja/nein, von entweder/oder, von Lüge/Wahrheit. „Man weiß, was man will, indem man es von sich weist“, ist somit der Kernsatz des Buches. Spannend und glaubwürdig ist die Wandlung der einzelnen Charaktere, ihre Ausprägung unter veränderten Bedingungen, das Hervortreten ihres wahren Gesichts. Unnachahmlich beschreibt die Autorin, wie sich beispielsweise der stets distanziert und überlegen wirkende Reisden angesichts aufkeimender Liebe in altväterliche Betulichkeit flüchtet. Sara Smith hält, mit raffiniert eingesetzten retardierenden Momenten, den Spannungsbogen bis zur letzten Minute. Sprachliche Schönheit und erzählerisches Gespür machen den Roman zu einem Meisterwerk der Erzählkunst.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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