Eine Rezension von Grace Maier
Tumult der Gefühle
Barbara Sichtermann: Fremde in der Nacht
Roman.
Marion von Schröder Verlag, München 1998, 316 S.
Der Roman hat einiges zu bieten: eine stimmungsvolle Berlin-Ballade, dramatische Eisenbahnkatastrophengeschichten, Kenntnisreiches über hauptstädtische U- und S-Bahnhöfe- vor allem aber die skandalöse Geschichte einer fatalen Begierde, in die sich ihr Held und Ich-Erzähler so heillos verstrickt.
All dies verwebt und erzählt Barbara Sichtermann temperamentvoll und mit einer Leichtigkeit, die so schwer zu machen ist, mit sexueller Sinnlichkeit und Offenheit und viel Sinn für komische und dramatische Verwicklungen im Alltag. Nichts Menschliches scheint ihr fremd, schon gar nicht, wenn es um Sex und Liebe geht. Da insbesondere beweist sie Phantasie und Sensibilität und großes Verständnis für die Untiefen menschlicher Gefühle.
Alles in diesem Roman, der im Sommer 1994 spielt, dreht sich um den Versicherungsvertreter und Modelleisenbahnfreak Hagen Schäfer. Im Verlauf des Geschehens sogar im wahrsten Sinne des Wortes und so schnell, daß er aus den Geleisen seiner Existenz gerät. Dabei ist dem sympathischen Softy mit missionarischen Ambitionen nichts wichtiger in seinem Leben als Klarheit, Vorhersehbarkeit und Sicherheit. Schuld daran, daß es so kommt, wie es kommt, ist wieder einmal die Liebe, die einen himmelhoch jauchzen läßt und oft genug zu Tode betrübt. Diese schmerzliche Erfahrung bleibt auch dem netten Hagen nicht erspart. Wie hätte er denn ahnen sollen, daß Almut, seine ihm erst kürzlich angetraute Frau, absonderliche sexuelle Stimulanzen nötig hat. In ihrer gemeinsamen vorehelichen Sturmund-Drang-Zeit war davon nichts zu spüren. Soviel Mühe er sich auch gibt, seiner Toleranz sind Grenzen gesetzt: Drei sind einer zuviel in einem Doppelbett, zumal er mit einemmal beunruhigende Neigungen verspürt und an seiner sexuellen Orientierung zu zweifeln beginnt. Und während ihm die Trennung von Almut noch mächtig zu schaffen macht, steht plötzlich s i e vor seiner Tür - Yvonne Genthin alias Lolita, die Kindfrau, der Mythos. Frech, hemmungslos, ebenso berechnend wie naiv bietet ihm die fünfzehnjährige Anführerin einer Kinderbande, die die Berliner Bahnhöfe unsicher macht, einen Deal an: Er bekommt die Brieftasche zurück, die sie ihm geklaut hat, und dafür gewährt er ihr für ein paar Tage Asyl. Als er sich tatsächlich darauf einläßt, ist eine Beziehungskatastrophe geradezu vorprogrammiert.
Der Roman entwickelt sich zu einer Geschichte der Leidenschaft zwischen zwei altersmäßig, sozial und intellektuell sehr unterschiedlichen Menschen, in der Komisches und Tragisches dicht beieinander sind. In einer Mischung aus Voyeurismus, Sympathie und schriftstellerischer Provokation versetzt sich die Autorin ganz in ihren Helden hinein, schildert mit erotischem Charme sein Ausgeliefertsein an die Kapricen einer völlig unberechenbaren Person und die Macht der Sexualität, die alle Grenzen außer Kraft zu setzen scheint und einen Tumult der Gefühle auslöst.
So souverän, locker, pointiert und amüsant das Geschehen auch dargeboten wird - das sexuelle Verhältnis des ungleichen Paares konfrontiert den Leser mit dem gewiß nicht leicht zu bewertenden Problem einer verbotenen Liebe. Die Meinungen dazu dürften geteilt, die Toleranz des einen oder anderen Lesers dafür womöglich überfordert sein.
Ob gewollt oder nicht - die turbulente Geschichte um Verführung und Verrat wirkt wie eine Hommage an den großen, virtuosen russisch-amerikanischen Erzähler Vladimir Nabokov und seinen weltberühmten literarischen Skandal Lolita, zumal sich auch mit Worten aus seiner Feder die Stimmung und Seelenlage des Helden von Fremde in der Nacht so wunderbar treffend charakterisieren läßt: Zu zweit im Dunkel durch Berlin zu streifen, du Halbgeträumte, seltsam ists noch immer.
Fremde in der Nacht ist ein Buch, bei dem fast alles stimmt: Sprache, Stil, Personen und ihr Lebensgefühl und das Porträt einer sich verändernden Stadt. Eine heiße Sommergeschichte - auch oder sogar besonders an kühlen Tagen ein fulminantes Lesevergnügen.