Eine Rezension von Rainer Jahn
Ein junges Leben, plötzlich entgleist
Stewart ONan: Die Speed Queen
Roman.
Deutsch von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek 1997, 256 S.
Für viele Autoren sind die Insassen von Todeszellen besonders interessant. Einerseits beschäftigt sie die Frage, warum ein moderner Staat wie die USA nicht ohne Todesstrafe auszukommen glaubt (und meist sind sie grundsätzlich anderer Meinung), andererseits interessiert sie das Geflecht der Bedingungen, die Gewalttaten hervorbringen (und so schaffen sie beklemmende Psychogramme der Mörder). In Andrew Klavans Ein wahres Verbrechen bringt dem Täter nach sechs Jahren Todeszelle nur der Umstand die von niemandem mehr erwartete Rettung, daß der Gefängnisdirektor den Vollzug mittels Giftspritze um 90 Sekunden verzögert; in dieser Zeit erweist sich die Unschuld des Delinquenten, und ein tragischer Justizirrtum wird verhindert. Ein viel gravierenderes Plädoyer gegen die Todesstrafe gelingt John Grisham mit seinem Buch Die Kammer insofern, als es hier um die Hinrichtung eines bissigen alten und unsympathischen Ku-Klux-Klan-Mannes geht, der sein Leben lang voreingenommen und haßerfüllt gegen Farbige, Juden und andere Minderheiten Mord und Totschlag praktizierte - Rassismus und Lynchjustiz gehörten schon zu dem Alltag, in den er als Junge hineingewachsen war. Gegenstand des filmischen Dokumentardramas Der Totmacher (1995) waren Protokolle der Vernehmung des deutschen Massenmörders Haarmann in den zwanziger Jahren, eines abartigen Mannes ohne Gefühl für Gut und Böse, für Recht und Unrecht. Es gibt der Beispiele mehr.
In Die Speed Queen, ein Buch, das der Autor seinem lieben Stephen King gewidmet hat, geht es um die letzten Stunden von Marjorie Standiford, einer Frau Ende Zwanzig, die seit acht Jahren einsitzt und deren Hinrichtung schon zweimal aufgeschoben wurde. Um Mitternacht soll die Giftspritze ihr Werk verrichten. Aber vorher muß die Delinquentin auf Kassette 114 ihr Leben betreffende Fragen des großen Romanciers Stephen King beantworten, der damit sozusagen ihre Biographie aufkauft. Das Honorar soll ihrem Sohne Gainey zugute kommen. Und so läßt sie ihr kurzes Leben fast atemlos an sich vorüberziehen.
King gilt als König des Horrors, was aber soll er wohl mit diesem Material anfangen?
Da ist alles so alltäglich zunächst, so normal ... Keine Spur von Horror. Ein normales Elternhaus, ein nicht unintelligentes, keineswegs gefühlsarmes Kind. Collegebesuch und Nebentätigkeit als Fritteuse und Tankstellenwart, wenig ehrgeizig fürwahr, aber Arbeit aus Gewohnheit eben doch. Dann freilich Zigaretten und Alkohol, die Nebentätigkeit wird Haupttätigkeit, Auszug aus dem Elternhaus. Immer noch nicht unnormal: kein Bruch mit Daheim, Zusammenleben mit Freundinnen, erste Freunde, einer macht das Rennen. Lamont, Autoreparateur, wird die große Liebe, eine halt- und belastbare Beziehung im ganzen trotz gelegentlichen Streits im einzelnen. Gainey wird gezeugt, von beiden gewollt, zur Welt gebracht schließlich, eine Eheschließung vorweg. Leider kommt auch Drogenkonsum ins Spiel, und Dealen wird Lamonts Nebenjob. Anläßlich eines Autounfalls wird ein Briefchen Stoff bei Marjorie gefunden, sie wandert dafür sechs Monate in eine Besserungsanstalt, lernt dort die Scheckbetrügerin Natalie Kramer kennen. Zwischen den Mädchen entwickelt sich unter den besonderen Umständen eine lesbische Beziehung, und nach der Haftentlassung kommt Natalie bei Lamont und Marjorie unter. Natalie hilft Lamont beim Dealen, auch zwischen beiden entwickelt sich eine Beziehung, die Marjorie schmerzhaft konstatiert und eifersüchtig beobachtet.
Lamont hat sich für seine Geschäfte Geld geliehen, dieses Geld wird eines Tages gestohlen, Lamont gerät unter Druck: Seine Gläubiger gewähren keinen Aufschub, arbeiten sogar mit Folter. Lamont muß Hals über Kopf mit den beiden Frauen verschwinden. Marjorie, die für schnelle Autos schwärmt, wird Fahrerin des Fluchtwagens (was ihr den Namen Speed Queen einbringt), kümmert sich um das Kleinkind, entwirft die Pläne - man braucht ja Geld für Benzin und Unterhalt. Aber alles geht entsetzlich schief, bei keinem Überfall springt ein Penny heraus. Da rasten Lamont vor allem, aber auch Natalie aus. Sieben Tote säumen bereits den Weg, als ein ahnungsloser Streifenpolizist den überschnellen Wagen stoppt. Lamont erschießt den Bullen, wird aber auch selbst abgeknallt. Da greift Marjorie erstmals zur Pistole und richtet sie auf Natalie, aber bald gerät auch sie ins Netz. Natalie überlebt, wird zu sechs Jahren verurteilt, ist nach zwei Jahren wieder frei, vermarktet ihr Geschick mittels eines fragwürdigen Bestsellers. Marjories Leben dagegen endet nun gewaltsam, wenigstens soll Stephen King mittels ihrer Wahrheit Natalies Lügen zurechtrücken, auch für Gainey ...
Daß das Buch zutiefst berührt, interessiert und überzeugt, daß es sich dem Gedächtnis einprägt und den Leser lange begleitet, hat mehrere Gründe. Da ist erstens ein junger Mensch, zur Tatzeit erst 21 Jahre alt, voller Gefühle, Sehnsüchte und Träume, ohne jede Neigung zur Gewalt, mit ganz durchschnittlichen Vorstellungen von Glück und Familie, dessen Leben (durch Drogen und Alkohol nur unwesentlich beschädigt) plötzlich entgleist und in die falsche Richtung rast. Ein Mädchen, das fast zwangsläufig zur Mitmacherin wird, nicht weil sie der Gewalt frönt, sondern weil ihr Potential zum Widerstand zu gering ist. Zweitens: Der Autor trifft fast schlafwandlerisch genau den Ton seiner Protagonistin, ihren Gedankenhorizont und ihren Sprachgestus. Die vertrauenerweckend ehrliche Selbstdarstellung ist verknüpft mit naiven Darstellungsvorschlägen an Stephen King, den sie verehrt, und mit Parallelen zu allen seinen Büchern und Figuren. Überhaupt: Bücher und Filme hat Marjorie immer zur Hand, sie gehören zu ihrem Leben wie die Rockmusik, nur die Maxime Widerstehe dem Bösen! hat sie nicht genug verinnerlicht. Der dritte Wirkungsfaktor ist eine raffinierte Dramaturgie. Eine stinknormale Biographie, per Selbstdarstellung extrem verlebendigt, wird nur dadurch ins Besondere gehoben, daß es sich um die letzten Stunden Lebenszeit überhaupt handelt, in der sie rekapituliert wird, und daß Gedanken an die bevorstehende Hinrichtung immer mal einfließen (samt ein paar vagen Andeutungen auf ein Gewaltverbrechen), ohne daß der Leser vorzeitig von den Geschehnissen in Kenntnis gesetzt würde. Nein, die schwerwiegenden Ereignisse kommen erst im letzten Viertel, und sie werden nur kurz und cool geschildert, unter Aussparung letzter Einzelheiten. Das ist überaus intelligent gemacht und mit großer Aufmerksamkeit fürs glaubhafte Detail.
Gegen die Todesstrafe an sich plädiert der Autor übrigens nur sehr indirekt. Wenn er Verständnis und Mitgefühl für seine Protagonistin beim Leser wachgerufen hat, erfährt dieser, daß sich vor der Hinrichtungsstätte viele Menschen eingefunden haben, um mit einem Hupkonzert und Scheinwerferaufblenden ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Welche Instinkte da in normalen Menschen geweckt werden ... Das kann man hierzulande schwerlich verstehen und gerade angesichts des Falles von Marjorie Standiford nur widerlich finden.
Auf jeden Fall: ein neuer Ton, ein eigener Wert in der eingangs umrissenen einschlägigen Literatur - zu verdanken einem Mann, der in Pittsburgh geboren und in Boston aufgewachsen ist. Stewart ONan arbeitete als Flugzeugingenieur und studierte, wie der Verlag mitteilt, in Cornell Kunst. Heute lebt er mit seiner Frau in Avon (Connecticut) und lehrt Creative Writing in Hartford. Für seinen Erstlingsroman Engel im Schnee erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis.