Eine Rezension von Christa Niemann


Berlin - ein Tummelplatz unterschiedlichster Existenzen

Rüdiger Scharper (Hrsg.):

Berlin um Mitternacht

Argon Verlag, Berlin, 1998, 160 S.

Der Autor, Kulturwissenschaftler und Theaterkritiker, hat sich des Themas Berlin um Mitternacht angenommen und unter ebendiesem Titel eine Sammlung von 15 ungewöhnlichen Berlin-Beiträgen herausgegeben. 14 Autorinnen und Autoren, bekannte und weniger bekannte, darunter er selbst mit zwei Texten, kommen zu Wort und geben ihre Sicht auf die Stadt wieder. So wie die Stadt - eigenwillig und voller Kontraste -, so sind auch die Geschichten in dieser Anthologie. In „Tote Hosen, schwere Fälle“ macht der Herausgeber seinen Reim auf die geliebte Potse, sprich Potsdamer Straße. Beinahe zärtlich schildert er das wechselvolle Nachtleben dieses Teils der Berliner Mitte, Orte und Menschen, die der Straße Charakter gaben und das Leben dort multikulturell werden ließen. Trotz aller Veränderungen, so ist er sich sicher, bleibt sich die Potse im Grunde doch gleich. Sie lebt und sie wird immer wieder zu neuem Leben erwachen, auch wenn sich „die Debis-Sony-City nachts als Wahnsinnsfassade einer Super-Totengräberstadt erweist“.

Der Faszination der Nacht, speziell des nächtlichen Berlins, geht Egbert Hörmann in „Ab durch die Mythologie“ nach. Für ihn ist Berlin eine Nachtschönheit, die mit Beginn des Abends erwacht. Jetzt kann sie ihre Nachteile kaschieren und ihren Zauber voll entfalten, von dem sich die vielen umtriebigen Nachtschwärmer magisch angezogen fühlen. Sie sind die „wahren Kinder Frankensteins, geboren aus Geschwindigkeit, Elektrizität und Verlangen“. Er geht Süchten und Sehnsüchten nach, fragt, warum die Menschen vor sich selbst zu ihren Mitmenschen fliehen und süchtig dem Nachtleben frönen. Indem er feststellt: „Die Masse ist das Asyl“, sagt er viel über die eigentlichen Sehnsüchte mancher zerrissenen Existenz aus. Wer sich für absonderliche Erotik um Mitternacht, wie sie von Karin Aderhold und Jutta Ahrens in „Die Unterwerfung der Domina“ oder von Carla Jaquim in „Midnight Blue“ geschildert wird, nicht erwärmen kann, sollte einfach darüber hinweglesen und sich erbaulicheren Texten zuwenden, z. B. dem Beitrag „Mein Radio, mein Fernseher und ich“ von Peter Laudenbach. Dieser ist einer anderen, speziell in Berlin und Umgebung beliebten Lustbarkeit gewidmet, nämlich den mitternächtlichen Radio- und Fernseh-Talk-Shows. Es ist köstlich zu lesen, wie über Jürgen Kuttners Plaudereien mit „Großstadtbewohnern und Bauern der umliegenden Provinzen“ im ORB-Sprechfunk berichtet wird, wie sowohl der Moderator als auch seine sinnigen bzw. unsinnigen Themen aufs Korn genommen werden und die Frage nach dem Funktionieren solcher Sendungen mit ihrem Nichtfunktionieren beantwortet wird. Auch die Auftritte Christoph Schlingensiefs als Talk-Master im Fernsehen und seine Gäste werden auf amüsante Weise gehörig durch den Kakao gezogen. In „Nachtvorstellungen“ stellt Rüdiger Scharper seine späten Ansichten vom Theater vor. Er sieht das Berliner Theater „grell und laut und dreckig, getrieben und hektisch-affektiert, weil dieses Theater ein Spiegelbild der Stadt sein muß, die sich selbst nicht kennt“. Bei Streifzügen durch einige Aufführungen und Theaterstätten, darunter die Kantine des Berliner Ensembles, erfährt man mehr über diese „späten“ Ansichten des Autors. Überhaupt sind es zum Teil ungewöhnliche Schauplätze, die der Leser kennenlernt. Neben Kneipen, Bars und Theatern sind u. a. Friedhöfe, ein verlassenes Bahngelände, ein Krankenhaus, ein Zuhältertreff und ein Rundfunkstudio Schauplätze dieser originellen und eigenwilligen Berlin-Geschichten. Die Texte, die der Herausgeber für seine Sammlung ausgewählt hat, passen zu Berlin und zeigen die vielen Gesichter der Stadt, in der man vieles findet und die eben auch ein Tummelplatz unterschiedlichster Existenzen ist. Wenn auch nicht jeder Leser alle Beiträge für sich akzeptieren wird, so findet er doch sicher die eine oder andere Geschichte, die ihn interessiert und berührt oder zumindest amüsiert.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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