Eine Rezension von Licita Geppert


Schön wie der Wind im Abendlicht

Rosemarie Marschner: Nacht der Engel

Roman.

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998, 358 S.

Dieses Buch ist schön wie ein Lied, wie eine Ballade über das ausgehende 15. Jahrhundert, in dessen letztem Jahrzehnt zwei gegensätzliche Weltbilder aufeinanderprallen und in einer gewaltigen Implosion enden sollten. Im eigentlichen Sinne hat dieses Buch keine Handlung. Wohl wird eine Geschichte erzählt, die Geschichte von Francesca del Bene und ihrem Mann Marco, einem Florentiner Kaufmann. Es ist vor allem die Geschichte von Savonarola, dem Bankierssohn aus Ferrara, der als Fra Girolamo gegen die Verderbtheit der Sitten in der Kirche, gegen Simonie und Nepotismus (also Ämterkauf und Vetternwirtschaft), gegen weltlichen Besitz und menschliche Eitelkeiten wütete, ein eigenes „Himmlisches Jerusalem“ in Florenz errichtete und am Ende dafür verbrannt wurde. So wird diese Geschichte auch die der wunderbaren Stadt Florenz und die der Medici, deren Untergang nach drei Generationen Herrschaft über die Stadt mit dem Tod Lorenzo de’ Medicis besiegelt war. So werden die Welten der Macht der Kaufleute und des Geldes und der Macht des wahren Glaubens, der reinen Lehre mit der Welt der Menschen verwoben, die sich zwischen diesen unversöhnlichen Polen eine Existenz sichern mußten.

Dieses Buch vermittelt vor allem eine Innenschau der Verhältnisse, die so authentisch wirkt, daß der Leser sich zugehörig fühlt, als wäre er seit je Bürger von Florenz, so intensiv ist das Wissen um die Schönheit der Stadt und der toskanischen Landschaft, das Verstehen der Vorgänge in dieser atemberaubenden Zeit, das Eingelebtsein in die Historie. In diesem Buch voll unaufdringlicher Weisheit dominiert die Sprache die Handlung. Mit einem Satz werden ganze Zeitalter gerafft, enthüllt sich dem Leser ein Universum an Ideen und Gefühlen, an Abläufen und Geschichten, ohne diese immer explizit benennen zu müssen. Mit feiner Beobachtungsgabe für Stimmungen und Gefühle entwickelt die Autorin das Panorama der Leidenschaften, die diese Stadt und ihre Menschen schier zerreißen. Sie beschreibt die Verhältnisse und machtpolitischen Ränke in Italien und Europa treffend und einprägsam. In wenigen Sätzen erfaßt sie das Wesen der Epoche und läßt die Romanhandlung um die Größe und den Verfall der prächtigen Stadt Florenz nach drei Generationen Herrschaft der Medici und der Kaufleute ranken. „Die halbe Welt als eine Spielwiese von Männern, die die angeborene Scheu vor der Fremde überwanden und lernten, Risiko zu ertragen, bis sie eines Tages seiner bedurften, um sich lebendig zu fühlen.“ Dabei schwelgt die Autorin in den Bildern der italienischen Landschaft und der Florentiner Lebensart, und der Leser schwelgt mit ihr. „Die Fenster gaben den Blick frei auf das wellige Land ringsum mit den vielen smaragdgrünen Hügeln, auf deren Gipfeln sich hinter Zypressen Gutshöfe ähnlich dem Ermannos erhoben. Ganz weit weg, in der diesigen und doch das Auge blendenden Ferne, die Züge des Apennin, die mit dem Himmel verschmolzen und mehr zu ahnen waren als zu sehen, wie eine Verheißung von - Ermanno wußte nicht, was.“

Rosemarie Marschner flicht Reflexionen über das Leben ein in den ruhigen Fluß der Erzählung, der keine Sekunde der Langeweile aufkommen läßt. „Zu wissen heißt besitzen, und als er älter wurde, träumte er davon, sich eine neue Weltkarte zeichnen zu lassen, exakt und kostbar wie die erste, aber mit all den neuen Entdeckungen, die während der kurzen Spanne seines Lebens gemacht wurden, so wie auch er selbst immer wieder Neues entdeckt und begriffen hatte, das ebenfalls aufgezeichnet war auf der unsichtbaren, sterblichen Landkarte seines Menschengedächtnisses.“ Selbst in melancholischen Momenten spürt man die Sonne und die ungezügelte Lebenslust der Menschen dieses Landstrichs, deren Liebe für das Schö ne auf dem Höhepunkt des Rauschs durch das Wirken Savonarolas blitzartig umschlägt in eine ebenso rauschartige Begeisterung für die reine Lehre und die Askese. Aus dieser Emphase des Glaubens und der religiösen Verzückung erwuchs letztendlich eine selbstzerstörerische Gottesliebe, die jenen erschlug, der sie als Reformator der Kirche erst entzündet hatte. Savonarolas Ende auf dem Scheiterhaufen ist eindeutig ein Justiz- und Kirchenmord. Noch heute trägt der Vatikan schwer daran, einen Heiligen, einen Erneuerer der Kirche, in einem fingierten Prozeß als Ketzer abgeurteilt zu haben. „Das war ein Mensch, der einen Traum hatte und den Mut und die Kraft, ihn zu verwirklichen.“ Das Asketentum des Fra Girolamo war jedoch, so berechtigt seine Forderungen auch sein mochten, nicht nur lebensfern und schließlich menschenfeindlich, sondern auch ohne jedes machtpolitische Gespür für die kirchlichen und weltlichen Kräfte, gegen die er ankämpfte. „Keiner in Florenz wurde gelobt wie Girolamo Savonarola und keiner so erbittert verdammt. Für die meisten war er ein Heiliger, den Gott gesandt hatte, damit er den Menschen zeige, wie sie zu leben hätten. Ein Mann Gottes und der Welt zugleich, dessen Predigten Fackeln waren, die die Sünde entlarvten und den Weg der Tugend beleuchteten.“ Savonarola war die Arroganz des Fanatikers eigen, der sich im Besitz der alleinigen Wahrheit glaubte, was andererseits bereits eine eitle Erhebung über Gott darstellte: „Was er ist, ist er durch Gottes Gnade und sich selbst.“

Beseelt, aber ohne Pathos, erzählt Rosemarie Marschner von Francesca, die ebenso wie der Mönch aus Ferrara stammte, womit sich die Ähnlichkeiten erschöpfen. Sie läßt ihre Heldin bereits zu Beginn des Buches Marco del Bene, die Liebe ihres Lebens, heiraten, und sie darf sich an diesem Glück auch ein Leben lang (zumindest bis zum Ende des Buches) erfreuen, aber sie erleidet auch die Verletzbarkeit der Glücklichen. An dieser Familiengeschichte brechen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, sie entzweien die Söhne - Giuliano, der ältere, dessen Geburt fast zum Tode Francescas führte, ein Junge von düsterem Gemüt, verinnerlicht schon früh die Lehren des Fra; der jüngere, Matteo, ist eine Künstlerseele, Medici-Anhänger und Kaufmann - und zwingen die Eltern zum emotionalen Spagat. Damit wird der große weltanschaulich-politische Konflikt in die abgeschirmte Welt der „famiglia“ getragen, die normalerweise ihr eigenes Universum bildete. Die Tyrannei des Geldes wurde abgelöst durch die Tyrannei des Glaubens. Die Schrecken, die Savonarolas ehrlich gemeinte Bestrebungen verbreiten, führen nach und nach zum Verlust seiner Anziehungskraft bei den Massen und damit in letzter Konsequenz zu seinem Untergang. Dennoch fürchtete Papst Alexander VI., der sich als Rodrigo Borgia der Simonie schuldig gemacht hatte, Savonarolas Einfluß auch dann noch so sehr, daß er ihn verbrennen ließ. So erlitt Savonarola, der als klug, doch nicht weise, als Mensch ohne Güte und Mitleid und dennoch als ehrlich Glaubender vor dem Leser ersteht, das doppelte Martyrium, denn auch die Signoria von Florenz fürchtete ihn wegen der möglichen Preisgabe ihrer Geheimnisse unter der päpstlichen Folter, der man zuvorzukommen versuchte, ohne sie verhindern zu können.

Rosemarie Marschners eigenwillig-schöne, poesievolle, bildreiche Sprache ohne jede Selbstverliebtheit und Koketterie ist ein Genuß in Zeiten des lakonisch-burschikosen Wortgerassels, der sinnentleerten Aneinanderreihung sprachakrobatischer Schöpfungen und der atemlosen Jagd von einem Wortwitz zum nächsten. Neben der sprachlichen Schönheit besticht der Roman aber auch durch seine historische Genauigkeit und die tiefe psychologische Durchdringung der Personen, seien es historische Persönlichkeiten oder frei erfundene Romangestalten.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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