Eine Rezension von Waldtraut Lewin
Mit den Platters unterwegs
Emmanuel Le Roy Ladurie:
Eine Welt im Umbruch
Der Aufstieg der Familie Platter 1499-1628.
Aus dem Französischen übersetzt von Wolfram Bayer und Jessica Beer.
Klett-Cotta, Stuttgart 1998, 442 S.
Zum Ende des 15. Jahrhunderts erblickt Thomas Platter im schweizerischen Oberwallis das Licht der Welt. Ihm gelingt es, vom hungernden und frierenden Ziegenhirten und Mitglied einer durch Deutschland irrenden Kinderbande zum Schriftkundigen, zum angesehenen Lehrer und berühmten Buchdrucker aufzusteigen. Sein Sohn Felix wird in Montpellier Medizin studieren und zu einer Leuchte der Wissenschaft werden - berühmter Arzt, berühmter Sammler und von den Humanisten des Zeitalters konsultierte Zelebrität, und sein jüngerer Bruder Thomas Platter junior wird ihm darin nacheifern.
All dies geschieht in der Stadt Basel und in der Tradition calvinistischen Protestantismus, und wir wissen das so genau, weil die drei Platters ein umfangreiches und vielfach nachgedrucktes Brief-, Memoiren-, Reiseerlebnis- und Diskurswerk hinterlassen haben. Die ursprünglich im Schwyzerdütsch des 16. Jahrhunderts, in Latein oder Griechisch abgefaßten Werke, die Platteriana, sind inzwischen in zahlreichen Neuausgaben erschienen und in verschiedene Sprachen übersetzt.
Diese Texte bilden das Grundmuster für Le Roy Laduries ebenso gründliches wie amüsant zu lesendes Buch über Eine Welt im Umbruch.
Renaissance und Reformation - da denken wir hierzulande an ganz andere Welten, ganz andere Namen. Italien und seine Künstler und Mäzene, auch die Gewaltmenschen wie Cesare Borgia und ihre Ideologen wie Macchiavelli einerseits, andererseits die überragende Gestalt eines Martin Luther - das ist das, was sich uns aufdrängt.
Hier, fast ein Jahrhundert später, stehen wir auf anderem Grund. Man ist allemal antipapistisch gesonnen, und gegen allgewaltige Feudalherren muß man in der demokratischen Schweiz schon gar nicht vorgehen. Die, dies gibt, sind längst mit der städtischen Handels- und Bildungselite verschmolzen. Auch im Frankreich dieses Jahrhunderts, durch das die Reisen und weite Lebensabschnitte der Platters führen, scheint es anders herzugehen als im übrigen Europa. Die Religionswirren brechen da erst ein gutes halbes Jahrhundert später aus, und Scheiterhaufen brennen jedenfalls in den Gebieten der Platteriana nicht - nur daß hin und wieder mal ein Gewaltbverbrecher an den Galgen kommt - sonst hätten ja die angehenden Ärzte von Montpellier nichts zum Sezieren.
Europa ist radikal im Umbruch - und an den Randgebieten, wo es nicht gar so gewaltsam hergeht wie anderswo, ist das besonders spürbar.
Le Roy Ladurie spricht von der sozialen Mobilität seiner Helden. Eine der wichtigsten und erstaunlichsten Tatsachen dieser Epoche: Wenn man nur Begabung und Strebsamkeit genug besaß, konnte eben ein barfüßiger Ziegenhirte aus dem Oberwallis ein angesehener Notabel werden - so, wie der uneheliche Sohn einer Stallmagd und eines Notars in Italien ein paar Jahrzehnte vorher zum größten Maler, Projektanten, Naturwissenschaftler und Ingenieur werden konnte (Leonardo da Vinci). Alles ist neu, alles ist möglich. Die festgefügte Welt des Mittelalters ist aus den Fugen.
Schon das allein ist zu lesen ungemein spannend und ein anderer Aspekt als der uns durch Bildung - oder Unbildung - anerzogene Blickwinkel auf dieses Jahrhundert. Wir lernen einmal mehr, daß zum Glück Welt und Geschichte viel detailreicher, viel verwirrender und facettierter sind, als man es uns immer pauschalisierend einreden will und wie wir leider nur allzu bereit sind zu glauben.
Aber des Autors Verdienst um die Aufbereitung seiner Texte geht weit darüber hinaus. Mit lustvoller Akribie beschreibt er das Ganze, wo die Platters nur ein Bruchstück dargestellt haben, beleuchtet Zusammenhänge, modelliert das soziologische Detail heraus. Seine Arbeit erinnert mich an meinen alten Germanistik-Professor, der uns die Story des Parzifal einfach so engagiert, so kenntnisreich, amüsant und modern erzählte, daß wir uns auf einmal keiner trockenen Pflichtlektüre mehr gegenübersahen, sondern einem temperament- und lebensvollen Bilderbogen einer vergangenen und doch nahen Welt. Allein mit welcher Gewissenhaftigkeit der Status und die jeweilige Befindlichkeit der französischen Städte recherchiert ist, durch die die Platters gewandert sind, sei es nun Bourges oder Bordeaux, Tours oder Poitiers - das ist des Beifalls würdig.
Natürlich zitiert er immer wieder seine schwyzerdeutschen Originale, kommentiert einfühlsam und liebevoll die Charaktere der drei Platters, die Situationen, in die sie geraten, die historischen Koordinaten, in denen sie sich bewegen. Die drei Bildungsgierigen und unerschrockenen Verwandten werden mit Tod und Teufel, Wegelagerern, versoffenen Teutschen (zu denen sie sich selbst auch zählen!), autodidaktischen Gelehrten, konvertierten südfranzösischen Juden (Marranen - denen gegenüber sie viel toleranter sind als gegenüber römischen Pfaffen!), Leuchten der Wissenschaft, berühmten Buchdruckern, Schankwirten, Witwen zweifelhafter Moral, Beamten und immer wieder Ärzten konfrontiert, sie begegnen mehrfach unerschrocken den verheerenden Pestepidemien, verlieren Freunde und Verwandte, pflegen und retten, heiraten und werden seßhaft im Goldenen Basel. Das liest sich alles amüsant und ist mit Sinn für Eleganz geschrieben - früher hätte man flott dazu gesagt.
Als profunder Wissenschaftler versieht Le Roy Ladurie sein Buch - das durchaus in die Hand des Laien gehört - mit einem reichen Bildteil, zu dem unter anderem die zeitgenössischen Stiche fast aller Städte gehören, die die Platters passierten, mit Anmerkungen, Personenregister, Karten und einem erschöpfenden bibliographischen Apparat. Ein Kompendium und eine Leselust zugleich.
Wer einen langen Urlaub in seinem Garten plant oder wen an der See der Dauerregen überrascht, der sollte sich nicht scheuen, das knappe Kilo Le Roy Ladurie einzupacken. Es lohnt, wenn man seine Muße mit Vergnügen verbringen möchte. Freilich braucht man den Atem einer durch nichts beschnittenen Freizeit. Aber die Platters reisten ja auch von Montpellier nach Basel in mehr als einem Monat.