Eine Rezension von Bertram G. Bock


Lesen oder leben

Judith Kuckart:

Der Bibliothekar

Roman.

Gatza bei Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1998, 255 S.

Mit der Zeit tun sie einem so richtig leid, die Bibliothekarinnen und Bibliothekare der Literatur. Blaß und schmal kommen sie meist daher, tragen dicke Brillen, haben leise Stimmen und sind meist noch schlecht bzw. unvorteilhaft gekleidet. Das wäre ja alles gar nicht so schlimm bzw. bemitleidenswert, das trifft schließlich noch auf ein paar andere Berufsgruppen zu, aber Bibliothekarinnen und Bibliothekare sind immer so schrecklich einsam, so schrecklich kontaktarm und so schrecklich im Leben gescheitert. Meist ist die erste Ehe schon kaputt - wenn denn überhaupt eine gehabt -, meist haben sich die Freunde schon lange verabschiedet, meist ist die geplante (bibliophile) Lebensaufgabe gescheitert und der einzige Band - vorwiegend Lyrik oder Erzählungen - wird auch von jedem Verlag abgelehnt bzw. gerade von diesem verramscht, da es niemand kaufen will. Also warum von diesem bekannten Muster bzw. Stereotyp abgehen, wird sich Judith Kuckart gesagt haben, wenn es denn so beliebt (und so praktisch) ist? Und so ist eben auch ihr Bibliothekar Hans-Ullrich Kolbe - wird es einen Bibliothekar mit einem „modernen“ Namen geben? - 53 Jahre alt, einsam, geschieden, drei Kinder, unglücklich und mit jener Eigenart bedacht, die man Tick nennt: Er hält Vorträge über Bücher, die es nicht mehr gibt.

Das ist natürlich nicht der Stoff, aus dem Romane sind, und daher verliebt sich Hans-Ullrich auf Seite 12 in Jelena, die eigentlich Elisabeth Schnee heißt, aber auch schon anders hieß, womit klar ist, in welchem Gewerbe sie arbeitet, im horizontalen. Dem gehobeneren aber, da sie Tänzerin ist, und die weiß, was sie - noch - wert ist. Eine Professionelle, die es versteht, auf die Wünsche ihrer Kunden einzugehen, die eine oder andere Utopie aufrechtzuerhalten, die es aber ebenso - wenn nicht sogar besser - versteht, sich von ihnen abzugrenzen, Privates und Berufliches nicht zu vermischen. Pech für Hans-Ullrich, der, liebeskrank, nicht wenig Geld in die Solokabine investiert, um zum einen Jelena zu sehen und zum anderen sie nun auch endlich mal zum Abendessen einladen zu können. Fünfzig Seiten später hat er es geschafft, die 28jährige bedankt sich für den schönen Abend und fährt mit dem Taxi davon.

Aber hartnäckig, wie nicht nur Bibliothekare und Verliebte sein können, bleibt Hans-Ullrich Kolbe am Ball bzw. am Münzeinwurf, mietet sich ein Zimmer in der etwas heruntergekommenen Pension Florian und wird für seine Hartnäckigkeit belohnt. Immerhin trifft er nun regelmäßig, „ein- oder zweimal die Woche“, Jelena, und sie schlafen miteinander. „Er redet über sich. Sie nicht. ,Warte‘, sagt er oft. Sie wartete nicht. Nie nahm sie ihre Armbanduhr ab. Nie war sie ganz nackt, ganz da. ,Bleib doch‘, bat er.“ Die Bitte wird vorerst nicht erhört. Erst als der Protagonist sich in den Urlaub begibt - auch zur Mutter -, wird ihr seine Wertigkeit bewußt. Das schon bekannte Hin und Her entspinnt sich, mal sind sie sich näher, mal nicht, mal geht sie auf ihn zu, mal er auf sie. Diese - letztendlich ganz normale - Liebesgeschichte, in dessen Verlauf Kolbe Beruf und Passion aufgibt, endet nicht in Venedig. Zwar sind sie für eine Zeit dort, versuchen etwas, was man als „Projekt Normalität“ bezeichnen könnte, auch wenn sie sich selbst als das „verbotene Paar“ bezeichnen. Das Projekt scheitert, denn so offen Hans-Ullrich Kolbe auch immer ist, Jelena hält Abstand. Kuckart gelingt es immer wieder ganz gut, dieses Nähe-Distanz-Verhältnis zu bezeichnen, wobei aber der eine oder andere stilistisch-metaphorische Ausrutscher vom Lektorat hätte bemerkt werden können. (Beispiel: „,Laß mich dein Aschenbecher sein‘, sagte sie mit verstellter Stimme, mit der Stimme eines Aschenbechers eben.“) Zurück in Berlin, endet die Gemeinsamkeit mit einer Tragödie, von deren Ausgang die Leserschaft aber schon früh erfährt, hat doch Judith Kuckart die chronologisch erzählte Hauptgeschichte durch eine zweite, kleinere und eher reflektive Erzählung immer wieder unter- und aufgebrochen. Diese spielt zwölf Jahre später. Protagonistin ist die in der Zwischenzeit erwachsene Tochter Sophie aus dem Osten. Auf der Suche nach ihrem Vater bzw. nach der Geschichte ihres Vaters, der den Kontakt so plötzlich zu ihr abbrach, hat sie sich in Berlin, wohin sie zum Vortanzen gekommen ist, auch bei der Polizei nach den damaligen Vorgängen erkundigt. Aber bis auf ein Foto, auf dem ihr nur mit einem Slip von Jelena bekleideter Vater vor der Leiche kniend zu sehen ist, erfährt sie kaum etwas.

„Heute nacht noch“, heißt es zu Beginn des Romans, „würde er sich das Lesen vom Leib reißen und nackt ins Leben laufen.“ Ein Entschluß, den Hans-Ullrich Kolbe dann ja auch verwirklicht, mit bitterem, unglücklichen Ende. Weg von der Literatur, von der Illusion und dem Aufbau anderer fremder Welten, hinein in die (eigentlich) eigene Welt - und dann dieser Ausgang? Weg von der Welt jener Bücher, die es nicht mehr gibt, hin zur leidenschaftlichen Liebe, zum Kampf um jemanden, der auch immer zugleich ein Kampf mit einem selbst ist - und den dann auch noch verlieren? „Er haßte jetzt Bücher, vor allem die schlechten, die wie das Leben sein wollten“, heißt es am Ende des Romans. Haßt er nun wirklich die Bücher oder nicht doch sein eigenes (derzeitiges) Leben, welches eben nicht so schön aufgegangen ist, wie es in der Literatur immer wieder zu finden ist? Es gibt genug Gründe, die von Kuckart auch genannt werden, dem L e b e n Vorrang vor dem Lesen zu geben, und es gibt, wie sollte es anders sein, auch Gründe dagegen. Unter diesen Gesichtspunkten gesehen, spielt die Autorin versiert mit Vorstellung, Illusion und Realität, bleibt jedoch eine Stellungnahme schuldig. Das macht den Roman zwar nicht beliebig, aber auch nicht gerade denkwürdig.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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