Eine Rezension von Karl Friedrich


„Wunderschönes Wetter, auch entsprechend viel Alarm“

Reinhard Gröper: Erhoffter Jubel über den Endsieg

Tagebuch eines Hitlerjungen - 1943-1945.

Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1996, 329 S.

Tagebücher sind authentische Zeugnisse. Sie geben nicht nur über die Zeit, den Zeit- oder Weltgeist Auskunft, der die Folie der Erlebnisse, Einsichten und Erfahrungen ist, sie geben zugleich auch Auskunft über Eigenart, Phantasie und Wirklichkeit desjenigen, der da sitzt und schreibt. Tagebücher werden viele geschrieben, zu allen Zeiten. In Zeiten, die langsam dahinschleichen, aber auch in Zeiten, die atemberaubend, ereignisreich davoneilen. Im übrigen werden wahrscheinlich fast so viele Tagebücher wie Romane geschrieben, die nie veröffentlicht werden. Und selbst unter den veröffentlichten Romanen und Tagebüchern sind nur wenige, die auch den nachfolgenden Generationen noch Auskunft geben können, die den Gehalt des eigenen Lebens weitergeben.

Leider gehört auch, meint der Rezensent, das Tagebuch von Reinhard Gröper zu jenen Büchern, die - kaum gelesen - rasch dem Vergessen anheimfallen werden. Ein Vierzehnjähriger beginnt im Sommer 1943 mit seinem Tagebuch. Die Schüler der Stuttgarter Schulen wurden während des immer heftiger werdenden Bombenkrieges in noch nicht gefährdete Kleinstädte verlegt. Reinhard Gröper kommt nach Rottweil und schreibt nun Tag für Tag auf, was ihm wichtig schien.

Auf den ersten Blick: viel, gar zu viel Banales. Kleiner Blick, geringer Horizont, eben ein Kleinbürgersöhnchen aus der Großstadt. „Nationalsozialistische Kinderlandverschickung“ hieß es damals. Das hatte für Stadtkinder manchen Vorteil, es gab gut zu essen, man war meist in der Landschaft, allemal der Natur näher als den harten Problemen der Zeit. Dazu jung und unerfahren. Was konnte da schon passieren? In geistiger Hinsicht? Wenig, wie Reinhard Gröper beweist.

Ist nicht gerade Schule, wird regelmäßig gewandert: „Auch die Umgebung ist schön.“ So schön, daß zu oft davon geschrieben wird. Alles ist zudem auch noch „wunderbar“. Der Tagebucheintrag vom 31.X.1943 beginnt so: „Zum Mittagessen gab es heute Kalbsschnitzel und Salat. Wodurch veranlaßt wurde, daß uns allen das Wasser im Mund zusammenlief. Als Nachtisch bekamen wir noch Apfelkuchen, der auch sehr gut schmeckte ...“

Wo anderwärts, auch vielen Vierzehnjährigen übrigens, das Wasser längst bis zum Halse stand, hier ist noch lange Idylle, und man muß ja zugeben, es ist sicher nicht gelogen, es war in ländlichen Gegenden Deutschlands zu jener Zeit alles noch recht romantisch. Und da hatten es Leute, die Gehorsam verlangten, gewiß auch leicht, mühelos ihre Forderungen erfüllt zu sehen. Das alles ist aber längst bekannt, Romane, Erzählungen und viele historische Detail- und Globalstudien haben diese Prozesse hinreichend genau durchleuchtet. Nachzuholen gibt es da kaum etwas. Es sei denn, da wird ein neues Bild vermittelt, eines, das auch eine Erzähl- oder Tagebuchfigur zeigte, bei der der Leser ins Staunen käme. Mitnichten ist es hier so. Nur Schulalltag, Landschaftsbilder. Erstaunlich, wie abgeriegelt das Leben zum Beispiel in Rottweil zuging. Deutsche Provinz.

Zwischengeschaltet sind Briefe an den Vater oder an die Mutter, da geht es um Pakete, um Geld, um Briefmarken, um Geburtstagsgeschenke und so weiter. Dann ist 9. November 1943. Zum erstenmal ein Wort über Geschichte, über Politik. Zitat Tagebuch: „Auch der 9. November 1939 liegt mir noch im Gedächtnis, an dem ein Attentat auf den Führer gemacht wurde.“

Vormittags Schillers „Glocke“, nachmittags „Ausmarsch“. Im Hintergrund Bomben auf Stuttgart, aber alles dringt, da ist Gröpers Darstellung schon glaubwürdig, nur verschwommen und verdreht bis nach Rottweil: „Man erzählt sich hier unglaubliche Gerüchte, daß diese Nacht Stuttgart schwer getroffen worden sei. Dies stimmt ja alles nicht!“ kommentiert der Junge und schmiedet neue Wanderpläne. Das Tagebuch eines Gläubigen, der nicht wahrnehmen will und kann, daß die Welt aus einer ganz anderen Legierung gemacht ist, als es die braunen Ideologen seiner Zeit vertuschten oder verlogen verkündeten.

An den Vater schreibt er, Träume habe er kaum, „nur ganz selten welche, und die sind dann so, daß ich sie schnell wieder vergesse“. Also da war ja doch im Grund der Seele etwas, das rüttelte und Alpträume verursachte. Doch der gute deutsche Junge verdrängt sie schnell wieder. Und so geht dieses Tagebuch fort. Banalitäten, Verdrängungen, Heilsverkündungen, stures Festhalten an der Idee vom Endsieg im Kopf des einschichtigen Jungen. Der Kopf war verstopft, in ihm keine gegenteilige Regung erkennbar. Im Gegenteil, als selbst der Vater ihm nahelegt, nicht mehr an wahnwitzige Phantasmen zu glauben, der Schreiber des Tagebuchs hält unerschütterlich daran fest. Felsenfest. Denn es gibt ja immer etwas, wofür er sich brennend interessiert. Statt erhoffter „Motor-HJ“ zwar nur „Spielschar der HJ“; und als Bomben in der Nähe fallen, werden alle Schäden genauestens registriert. Ganz selten steht auch eine ironische Belichtung im Tagebuch; 6. XII. 43: „Heute abend hatten wir recht viel Spaß mit dem Nikolaus; denn wir hatten festgestellt, daß der Nikolaus eine HJ-Uniform unter dem Mantel trug. Einer fragte, ob es im Himmel auch HJ gebe.“

Gelesen werden zu Weihnachten Kapitänsberichte, während in der „Wochenschau“ „besonders die Verdienste der Eisenbahner im Osten gewürdigt“ werden. Allmählich sickert schon durch, daß es Ereignisse gibt, die anders sind als die zumeist stillen Geschehnisse im ruhigen Rottweil. Auch als alles noch schlimmer wird, die Fronten näherrücken, Stuttgart immer mehr zerstört wird, läßt sich der Schreiber dieses Tagebuchs nicht irritieren. Im Gegenteil, er versteift sich, wird noch hartnäckiger, geradezu besessen in seinem Glauben an den Sieg des Wahnsinns, den er nicht erkennt. Folgt noch der Bruch mit den Eltern, mit fünfzehn Jahren läßt er sich mühelos überzeugen, wird Mitglied der Waffen-SS.

Der Verlag nennt dieses Tagebuch ein „außerordentliches Dokument“. Das ist sehr hoch, zu hoch gegriffen. Gewiß enthält es im Kern die Wahrheit im Zwiespalt, das schauerliche Nebeneinander von Zerstörung und Wut, auch der Zerstörung zu trotzen. Auch ist die verhängnisvolle Gläubigkeit, die Generationen von jungen Leuten zerstört hat, partiell eingefangen. Doch leider ist in diesem Tagebuch des Kleinen, des Kleinlichen zu viel. Da hätte der Verlag schon mal mutig eingreifen sollen, einfach zu viel Harmonie- und Bratkartoffelgeplauder, das langweilt. Und was von der ersten Seite an zu viel war, ist es auch auf den letzten Seiten noch. Schilderungen von Banalitäten, eine grenzenlos verhübschte Weltdarstellung. Noch am 22. III. 1945: „Den ganzen Tag war wunderschönes Wetter, auch entsprechend viel Alarm.“ Verdrängung, Verdrängung. Alarm, aber unentwegt schönes Wetter. Sicher die Wahrheit, aber von welch kleinlicher Schauerlichkeit.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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