Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Ein Elfjähriger bringt die Geld-Welt durcheinander

William Gaddis: J R

Roman.

Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1996, 1039 S.

Ein dickleibiger Roman. In einer fließend-galoppierenden Sprache geschrieben, das erste Wort ist „Geld ...?“ Mit einem Fragezeichen versehen, sieht das schon sehr eindeutig aus. Aber es beginnt ganz spielerisch. Zunächst nur Münzen. Als Papiergeld auftaucht, gibt es erst mal Verblüffung unter Kindern aus dem amerikanischen Westen. Denn der ist wilder, ursprünglicher, originaler, auch was das Geld betrifft. Hier ist noch alles metallisch verbürgt, was die Macht den Leuten durch die Hände gleiten läßt. Es klimpert ein echter Silberdollar wie Musik. Doch das Papiergeld im Osten, auf den ersten Blick nur bedrucktes Papier, leblos. Geldgeschäfte, Tauschgeschäfte, hier fängt es noch harmlos an. Nicht ganz so harmlos, denn es gibt was zu erben und es liegt kein Testament vor. Das reizt die Phantasie, weckt die Erinnerung. Der spielsüchtige junge Bursche, der bald die Macht des Geldes durchschauen und sie skrupellos ausnutzen wird, jener J. R., der mit seinen Initialen diesem Roman Titel und Markenzeichen gibt, weiß von seinem Vater, wie folgenreich der Umgang mit Geld, auch mit dem nichterhaltenen, sein kann. Der bekam vor Jahren, jung war er noch, für getane Arbeit nicht Geld, sondern eine Geige. War wohl nichts anderes in der Nähe. Setzte sich mit der Geige in die alte Scheune und versuchte, „die ersten Töne herauszukriegen“, doch als sein Vater das hört, zertrümmert er die Geige auf dem Kopf des Dilettanten. Der Familienkommentar klingt sehr schlüssig: „Wir waren nun mal eine Quäkerfamilie, in der man einfach keine Dinge trieb, die sich nicht auszahlten.“

Im Roman und in der Wirklichkeit: Aus den Fehlern der Väter lernen die Söhne. Manchmal, und manchmal ist alles nur Täuschung, auch Selbsttäuschung. J. R., der elfjährige Sechsklässler und Romanmittelpunkt, lernt rasend, wie man mit Geld, möglichst mit viel Geld, umgeht, es in Windeseile immer wieder und immer mehr vervielfacht. Schon der Schüler J. R. weiß, weil er so rasant zu lernen vermag, wie man eine Aktie kauft, das Gefühl erwirbt für ein System, das vom Geld bewegt wird. Ganz einfach ist das alles, wenn man nur den Überblick hat, die Hände an den richtigen, den heißen Fäden und Drähten spielen läßt. J. R. beginnt vom Schultelefon aus zu spekulieren. Eröffnet ein Konto, fusioniert mit Firmen und verlegt eiskalt ganze Belegschaften. Er macht das so geschickt, daß er gar bald zu einem ansehnlichen Geld-Vermögen kommt, Herr über ein riesiges „Paper Empire“ ist. Dieser Roman lebt vom Wüten eines jugendlichen Spiel- und Spekulationsbetriebes. Mit Hilfe postalischer Geldanweisungen verschafft er sich mühelos Tageserfolge, weckt unermüdlich neue Lust auf noch größere Erfolge. Kitzelt aus dem Geld-System alles Erdenkliche heraus. So entsteht ein bombastisches, ein unvergleichliches, ein prächtiges Finanzimperium. Leser, die zu gern auch ähnliches viel lieber täten als nur einer langweiligen und schlecht bezahlten Arbeit nachzugehen, werden blaß vor Neid oder sind froh, nicht diesen Strapazen ausgesetzt zu sein. Daß J. R. dabei eine erhebliche Anzahl Firmen in den finanziellen Ruin treibt, könnte sensible Leser nachdenklich stimmen. Allein den Helden läßt es kalt, mehr noch, er registriert aus weiter Ferne seine Erfolge und den Ruin anderer durchweg genüßlich. Dieses Biest schwimmt im Geld, weil er es zu dirigieren versteht. Doch das Geld, längst wissen es dessen Besitzer, hat nicht nur eine Vorder- und eine Rückseite. Auch keimt im Elfjährigen schon der erotische Wahn, der nach Ansicht mancher Philosophen im Gelde zu liegen scheint. Der Leser fühlt sich an- und hineingezogen, an- und zugleich abgestoßen. Doch es ist eine frappierende Mischung, die der Erzähler Gaddis hergestellt hat. Epischer Spaß, schillernd, voller Komik, Satire und bitteren Ernst zugleich. Eine köstliche Lektüre: wie die komplizierten Finanzgeschäfte vom Schüler J. R. per Telefon mit „gutmütiger Gier“ (wie Gaddis schreibt) manipuliert werden. Der Spaß ist kaum noch einer, wenn man bedenkt, was die Welt inzwischen weiß, daß gerade Schüler am Computer glänzende Spieler sind, die tatsächlich schon in Imperien der Macht und des Geldes eingedrungen sind.

William Gaddis zeigt mit seinem satirischen Roman die Brüchigkeit der Verhältnisse, die Anfälligkeit des monopolistischen Geld- und Wirtschaftssystems. Mit schnoddrig verknappter, mit zeichenhaft salopper Sprache hält er die Balance zwischen den komplizierten Abläufen an den Finanz- und Wirtschaftsmärkten und deren komischer, wuchtig übertriebener Darstellung. Die Gier nach Geld setzt im Leben der Menschen immer früher ein. Kürzlich traf der Rezensent in einem kleinen italienischen Dorf ein deutsches Vorschulkind. Es trug ein Körbchen mit Aprikosen. Naiv fragte ich, wem sie das schenken wolle. Ihre Antwort, klar und deutlich: das könne jeder kaufen, der es bezahlen möchte.

Gaddis erzählt, die Doppelbödigkeit menschlicher Energien persiflierend, in vielen Tönen. Das Spiel wird unaufhaltsam vorangetrieben, bis es schon keins mehr ist. Die meisten Dollars auf der Anzeigetafel holt hier der größte Spieler: J. R. Also einer, der den amerikanischen (auch mitteleuropäischen) Traum vom großen Geldgewinn so bitter wie nur möglich praktiziert und zugleich karikiert. Das alles ist in den Antrieben, Handlungen und alltäglichen Details äußerst scharf beobachtet, in zügig fließenden Dialogen bis auf den Punkt getrieben, wo die im Eifer der Ereignisse vor Anspannung gesättigte Sprache schier zerplatzt. Eine von Durchtriebenheit nahezu zerfetzte Sprache steht für eine im Gelde verkommene Moral. Nicht mehr schön, aber anschaulich-schaurig, spannend allemal.

Man kann diesen Roman auch mit den Ohren lesen, er tönt wie ein ewig heulendes Alarmsignal: Ein Elfjähriger verwirklicht, was die Erwachsenen alles unter der Macht des Geldes verstehen, nur größer, wilder, kälter und viel hemmungsloser. Zum Roman gehört auch das Ende des Spiels. Aus Lust und Gier, wie bekannt, erwächst kein neues Welt-Reich. Reichtum kann auch wieder zur Armut führen. Das ist hier zum Schluß ein riesiger und ein rauschender Kollaps.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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