Eine Rezension von Hans-Rainer John
Vor der Schuld kann man nicht davonlaufen
Peter Cameron: Damals ist ein fernes Land
Roman.
Deutsch von Nikolaus Stingl.
Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 254 S.
An einem sonnenüberglänzten Montagmorgen trifft Alexander Flox, Antiquar und Buchhändler, in La Plata ein. Nach traumatischen Erlebnissen - er verlor Frau und Kind - will er sein Dasein in San Francisco hinter sich lassen und in dem märchenhaften Zwergenstaat Andorra neu beginnen. Alles scheint ihm günstig: das Wetter, die bezaubernde kleine Stadt mit ihren Gebäudeterrassen, dem Hafen, den Bergen, und die Menschen, die sofort seine Freundschaft suchen. Da sind die hübsche Ricky Dent und ihr komponierender Ehemann, aus Australien stammend und hier ansässig geworden, ferner die fast hundertjährige Mrs. Reinhardt, die das exklusive Excelsior gegen lebenslängliches Wohnrecht in einer Suite des Hotels verkaufte, und schließlich Mrs. Sophonsobio Quay, Witwe eines andorranischen Ministers, mit ihren reizvollen Töchtern Jean und Nancy. Geldmangel scheint Flox keineswegs zu plagen, und ein hübsches Haus mit weitem Blick ist auch bald gemietet. Alles könnte so schön sein ...
Aber nichts ist, wie es scheint. Andorra erweist sich bald als klein und beklemmend, durch feste Maßstäbe und strenge Vorschriften reglementiert. Es ist zudem auch keine ganz heile Welt, da nachts im Hafenbecken Leichen antreiben. (Untersuchungen laufen an, Floxens Paß wird eingezogen.) Beim näheren Hinsehen erweist sich, daß die auf den ersten Blick beneidenswert lebenden Freunde alle ihre Probleme haben. Mrs. Reinhardt wird in ein Dienstmädchenzimmer verbannt, sie muß ihre Habe versteigern, um Kost und Logis zu bestreiten, angeblich sei ihr lebenslanges Wohnrecht abgelaufen. Die Dents leiden unter dem Verlust ihres Sohnes, der im Alter von sieben Jahren tödlich verunglückte, und unter der homoerotischen Neigung des Mannes. Der trennt sich von seiner Frau, flieht nach Barcelona. Auch die Quays sind nicht wenig vorbelastet: Der Vater starb keines natürlichen Todes, sondern wurde unter dem Verdacht der persönlichen Bereicherung in den Tod getrieben, ein Sohn schied freiwillig aus dem Leben, und Jean wurde gewaltsam von ihrem Geliebten getrennt, weil der nicht standesgemäß war. Nancy dagegen zieht ein Kind ohne Vater auf und führt ein laszives, auf Alkohol, Drogen und Nikotin gegründetes Leben ...
An den Leichen in La Plata hat Flox keinen Anteil, aber eine Untersuchung fürchtet er dennoch. Denn seine Frau und sein Kind waren nicht Opfer eines Unglücks geworden, sondern sie starben von seiner Hand. Er flieht deshalb bei Nacht und Nebel auf dem Seeweg nach Frankreich. Ein kurzer Nachsatz findet ihn - an dem Buche schreibend - in einer Zelle. Offen bleibt, ob er nach seiner Flucht gefaßt und verurteilt wurde oder ob der Aufenthalt in Andorra überhaupt nur eine Frucht seiner Phantasie ist. (Die falsche geographische Ansiedlung Andorras am Mittelmeer läßt fast darauf schließen.)
Die Botschaft des Buches ist wohl, daß fast jeder schwer an einem Stück Vergangenheit trägt, daß es aber einen absoluten Neuanfang nicht gibt: Glück oder Unglück ist etwas Innerliches, das man von Ort zu Ort mit sich herumträgt wie eine Schildkröte ihren Panzer. Ist das aber nicht eher banal als überraschend, neuartig oder tiefschürfend? Und gilt es nicht zu unterscheiden zwischen Glück und Unglück einerseits und Mord und Totschlag andererseits? Der arge Weg der Erkenntnis des Alexander Flox, wenn es denn einer sein soll, ist jedenfalls nicht logisch, überzeugend, nachvollziehbar. Durch das ganze Buch geht er als feinfühliger und integrer Charakter, vom Mitleid seiner Partner und sogar des Lesers begleitet. Daß er sich fast auf der letzten Seite als Doppelmörder outet, wirkt mehr als Überraschungsgag des Autors denn als Ergebnis einer tiefgreifenden inneren Auseinandersetzung. Keine Spur von Gewissensforschung, keine Seelenqualen, die der Tat entsprechen würden jedenfalls ...
Dabei bedient sich Cameron einer wunderschönen klaren und poetischen Sprache, so daß das erste Drittel des Buches großen Lesegenuß vermittelt. Die andorranische Hauptstadt wird - detailliert geschildert - überaus plastisch erlebbar, und die Personen, die Floxens Weg kreuzen, mit sicherem Strich großflächig umrissen. Auch wie sich die Abgeschlossenheit und scheinbare Geborgenheit des Zufluchtsortes zunehmend als beklemmende Falle erweist, wird mit fast kafkaesken Mitteln überzeugend dargestellt. Im weiteren Fortgang allerdings verliert sich der Autor mitunter in der minutiösen Schilderung des Tagesablaufs seines Helden (wenn er beispielsweise der Anmerkung Ich kaufte mir eine Waffel auch noch die Klammerbemerkung Schwarze Johannisbeere folgen läßt, tangiert er schon den Bereich des Protokolls), und die ihm begegnenden Personen gewinnen nichts mehr an Profil und Tiefenschärfe hinzu. Referiert wird ihr Schicksal, aber ihr Charakter offenbart sich kaum. Es ist, als ob der Autor eine Glaswand vor ihnen aufrichtet und jedes Eindringen verwehrt. Die jungen Frauen Jean Quay und Ricky Dent zum Beispiel, die sich beide für Flox interessieren, sind letzten Endes fast austauschbar (ein Zufall nur, daß er mit der einen schläft und mit der anderen nicht), und Mister Dent, der nachts ohne Ausrüstung unter Lebensgefahr über die Pyrenäen nach Spanien entflieht, bleibt ein Rätsel (hat auch er eine Leiche im Keller?), auf dessen Auflösung der Leser bis zum Ende vergeblich wartet.
Insofern endet die mit großem Vergnügen und hohen Erwartungen begonnene Lektüre am Ende enttäuschend. Der Verlag meint, es seien die facettenreichen Lesarten, die die Faszination des Textes ausmachen. Tatsächlich ist es aber die zum Teil rätselhafte Unbestimmtheit, die das Buch weder als Kriminalgeschichte noch als Sittenbild noch als Psychogramm interessant werden lassen. Nach Schaltjahr und Das Wochenende handelt es sich bei Damals ist ein fernes Land um den dritten Roman von Peter Cameron (38), der in New Jersey aufgewachsen ist, heute in New York lebt und an der Columbia Universitys School of the Arts lehrt. Er wurde schon zweimal mit dem O. Henry Award ausgezeichnet und verfügt ganz sicher über reiche schriftstellerische Mittel. Aber diesmal ging er zu unentschieden ans Werk, ließ er es an tiefgreifender Charakterisierungskunst fehlen. Und ganz sicher war wohl auch die Grundidee zu schmal.