Eine Rezension von Gisela Reller
Das ist Natur
Bulat Okudshawa: Reise in die Erinnerung
Glanz und Elend eines Liedermachers.
Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth. Herausgegeben, mit einem Nachwort und einem kommentierten Personenverzeichnis von Leonhard Kossuth.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1997, 187 S.
Wem Bulat Okudshawa kein Begriff ist, dem wird dieses intime kleine Büchlein vielleicht ein wenig geben. Wer Bulat Okudshawa aber kannte, liebte, schätzte - er starb auf seiner letzten Lesereise am 12. Juni 1997 in Paris -, der lernt eine zusätzliche Seite des Dichters, Liedersängers und Romanciers kennen, die ihn anrühren wird.
Der Dichter vertonte seit Mitte der fünfziger Jahre seine Gedichte meist selbst und sang sie zur Gitarre. Sein Publikum - 1960 erhielt er die erste Auftrittserlaubnis - war begeistert. Lieder wie Mitternachtstrolleybus, Der schwarze Kater, Lied vom blauen Luftballon gingen um die Welt. Bulat Okudshawa sang sie in Polen, in der DDR, in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich, in den USA, in Großbritannien, in Australien.
Der Romancier schrieb seit Mitte der sechziger Jahre vier historische Romane: Der arme Awrossimow (1969); Merci oder Die Abenteuer Schipows (1971); Die Reise der Dilettanten (1978) und Begegnung mit Bonaparte (1983).
In den drei Erzählungen seiner Reise in die Erinnerung erinnert sich Bulat Okudshawa an Begebenheiten aus seinem Leben, von denen er nicht alle zu allen Zeiten hätte veröffentlichen dürfen - er, dessen Vater Schalwa Georgier und dessen Mutter Aschchen Armenierin war, beide Parteifunktionäre, beide von Stalinschen Repressalien betroffen. Der Vater wurde 1937 hingerichtet, die Mutter verbrachte mehr als zehn Jahre in Straflagern. Mit dreizehn Jahren galt Bulat Okudshawa als Sohn von Volksfeinden.
Als ich ihn 1982 auf einer Veranstaltung fragte, wie es denn sein kann, daß er bei seiner Abstammung als Russe gilt, ließ mich der sonst so freundliche, auskunftsfreudige Mann ohne Antwort. Dabei hätte ich mich mit der Erklärung zufriedengegeben, die er 1985 in einem Interview seinem Herausgeber Leonhard Kossuth gab: Der Arbat (ein Wohnviertel in Moskau - G. R.) ist mein Geburtsort und mein Lebensraum. Ich wuchs mit der russischen Kultur auf, meine Muttersprache ist Russisch. Mit gutem Grund betrachte ich mich deshalb als russischen Schriftsteller.
Die Erzählungen in seiner Reise in die Erinnerung - geschrieben zwischen 1988 und 1991- sind von beeindruckender Aufrichtigkeit. Zwar nennt er sich darin (typisch russisch) Iwan Iwanytsch oder (typisch georgisch) Otar Otarytsch, aber dies ist unverkennbar er selbst, zumal das autobiographische Ich sich öfter (beabsichtigt) zu Wort meldet. Okudshawa erzählt von illegalen Zusammenkünften seiner Fans, von peinsamen Befragungen im Parteikomitee, von seinen ersten Auslandsaufenthalten und seinen gierigen Westwaren-Einkäufen sowie auch von seinen wißbegierigen Besuchen in Porno-Kinos und seinem ganz und gar unerfreulichen Abstecher in einen Puff.
Verblüffend für mich, mit welcher Detailtreue er Ereignisse schildert, die teils Jahrzehnte zurückliegen. Ich hörte ihn einmal sagen, ihm fehle die Gabe, über unmittelbar Erlebtes zu schreiben. Bei ihm brauche es Zeit, ehe er sich umgesehen, nachgedacht habe, darstellen könne. Ich behaupte nicht, Schriftsteller, die über heutige Vorgänge schreiben können, täten dies unbedacht. Nein, das liegt an der Art der Begabung. Das ist Natur.
Bei dem reißerischen (?) Untertitel Glanz und Elend eines Liedermachers dachte ich beim ersten Hinsehen, er sei der Verkaufsträchtigkeit geschuldet. Aber im Leben Bulat Okudshawas gab es durchaus sowohl glanzvolle als auch elende Zeiten.