Eine Rezension von Friedrich Schimmel
Wo fängt alles an?
Arvind Sharma (Hrsg.): Innenansichten der großen Religionen
Buddhismus - Christentum - Daoismus - Hinduismus - Islam - Judentum - Konfuzianismus
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1997, 776 S.
Im Zeitalter der Kriege und einer vielfach zerrissenen Welt spielen auch die Religionen ihre schwierige Rolle. Nicht immer beschwichtigend und keineswegs etwa selbstverständlich friedenstiftend. Gerade aber das ist ein Ur-Element der Weltreligionen, auf das dieses Buch aufmerksam machen will. Kenner und Vertreter der großen Weltreligionen unternehmen in dieser Darstellung den Versuch, ihre Religion von den ursprünglichen, den spirituellen Traditionen her neu in Erfahrung zu bringen. Vielerorts gibt es ihn schon, den Dialog zwischen den Religionen. Erst die Kenntnis von dem, was einen anderen Glauben, eine fremde Religionsgemeinschaft bestimmt, macht einen Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und andersartiger Lebens- und Glaubensart möglich.
Die prägnante, historisch fundierte Darstellung dieser Beiträge erleichtert auch Nicht-Gläubigen den Zugang zu den Religionen. Wir sollten niemals vergessen, daß es keine andere religiöse Realität gibt als den Glauben des Gläubigen, heißt es im Motto zu diesem Buch. Und das ist ganz unmittelbar zu verstehen, aus der Sicht des Gläubigen, der, mehr oder weniger, den essentiellen Kern seiner Religion in sich trägt. Denn: Wollen wir Religion wirklich verstehen, dann dürfen wir einzig und allein vom Zeugnis des Gläubigen ausgehen.
Die Autoren, die hier schreiben, gehören zur Tradition ihres Glaubens, kennen den Gegenstand ihrer Darstellung genau. Nicht über etwas wird referiert, sondern aus der Sache heraus selbst dargestellt. So vermittelt sich auch persönliches spirituelles Erleben, werden problematische Prozesse in den Religionen vermittelt. Dieses Buch läßt sich nicht wie eine dokumentarische Chronik oder wie ein historischer Roman lesen, man muß es intensiv, spirituell womöglich studieren. Da es von akademischen Vertretern der jeweiligen Religion geschrieben ist, ist es auch möglich, sich auf eine gute methodische, abwägende, hinführende Mitteilung einzustellen. Die Frage Was ist Buddhismus? eröffnet diesen Band. Untersucht werden die kunstvollen Mittel, die enorme Vielfalt in dieser Religion. Ausgiebig erfährt der Leser über das buddhistische Glaubensbekenntnis, ursprünglich als dreifache Zuflucht, später als die Drei Kostbarkeiten oder die Drei Schätze benannt. Auch die Gestalt des Buddha wird analytisch erörtert. Buddha ist demnach kein Name, sondern ein Titel, und bedeutet der Erleuchtete oder der Erwachte. Buddha, das ist vor allem ein gewöhnlicher Mensch, der aber zu Einsichten gekommen ist, von denen die Erleuchtung eine der wichtigsten ist.
Die Geschichte des Christentums ist reich an Mysterien, Figuren und Geschehnissen. Dem Mitteleuropäer vertrauter ist auch, und sei es nur noch vom Hörensagen der Voreltern, christliches Leben. Ausführlich wird die Person Jesus Christus erklärt, doch auch die vielen anderen Heiligenfiguren werden in ihrer bild- und bedeutungsreichen religiösen Praxis gezeigt. Zu den zeitgenössischen Heiligen werden etwa der Pastor und Theologe Dietrich Bonhoeffer gezählt, ein Beispiel für ein christliches Leben im zwanzigsten Jahrhundert, weil seine Geschichte geradezu unverschämt zeitgenössisch ist, schreibt Harvey Cox, der Autor des Beitrages Das Christentum.
Jeder Beitrag wird mit einer Definition der jeweiligen Religion eröffnet. Das erlaubt den Autoren auch die Veränderungen, die gegensätzlichen Strömungen und modernen Debatten in nerhalb der Religionsgemeinschaften mit einzubeziehen. Es ist freilich auch von den vielen innerreligiösen und politischen Schwierigkeiten zu lesen. Oder daß es selbst den Anhängern des Hinduismus nicht leichtfällt, ihre Religion zu definieren, die in Israel und anderswo gestellte Frage zu beantworten Wer ist Jude? oder abzuwägen, was für das Entstehen einer Religion überhaupt entscheidend ist. Spannend ist es, all solchen Fragen, die nie oberflächlicher Schein-Heiligkeit das Wort geben, nachzusinnen. Und je mehr man in den Kontext der Darstellung eindringt, um so mehr spürt man, daß Religionsgeschichte und Weltgeschichte eine untrennbare Einheit in Vielfalt und Bedeutsamkeit genannt werden müssen. Eine Frage wie Definieren Ereignisse Systeme oder wählen sich Systeme Ereignisse aus? ist nicht nur innerhalb der jüdischen Religion von Bedeutung, sondern kann auch in anderen religiösen und weltlichen Sphären als methodisch brisante, herausfordernde Fragestellung jederzeit ernstgenommen werden.
Wer über die Geschichte der Weltreligionen derart konzentriert informiert werden möchte, dem ist dieses Buch zu empfehlen. Daß der interessierte Leser darüber hinaus auch noch eine Fülle von Details über modernes religiöses Leben in vielen Teilen der Welt erfährt, macht diese Lektüre zu einem ganz unmittelbaren Erlebnis. Die Erfahrung des Lesers mündet nicht nur in Wissen. Da es um spirituelle, also ganz individuelle und gesellschaftliche Fragestellungen, um Leben und Überleben in der Welt geht, kann es auch nicht ausbleiben, daß der Leser direkt angesprochen wird, die Lektüre geradezu zum folgenreichen Erlebnis werden muß.
In seinem Schlußwort hat das der Herausgeber sehr anschaulich mitgeteilt. Arvind Sharma, der als Professor an der McGill Universität in Montreal vergleichende Religionswissenschaft lehrt und bereits mehrere Bücher über die Weltreligionen publiziert hat, schildert die Beschäftigung mit sieben Weltreligionen so: Ich wäre am liebsten zu der Religion konvertiert, über die ich gerade las - nur einige davon hätten mich nicht gelassen oder hätten mir das zumindest nicht leichtgemacht. Und direkt an den Leser sich wendend, bemerkt er weiter: Wenn es Ihnen am Ende der einzelnen Kapitel ähnlich ergangen sein mag, braucht Sie das nicht zu beunruhigen. Es sollte nicht verwundern, wenn wir als menschliche Wesen irgendwann einmal die beinahe überwältigende Anziehungenskraft verspüren, die von jeder einzelnen dieser verschiedenen Ausdrucksformen menschlicher Religiosität ausgeht.
Wo fängt alles an? Diese Frage durchzieht dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Und wenn der Leser bei dieser Wegsuche, bei einer wechselvollen Wanderung durch Innen- und Außenwelten, am Schluß zu einer Einsicht gelangt ist, die auch seine eigene Innenansicht innerhalb einer (oder mehrerer) Religionen sein kann, dann ist etwas Wichtiges in Gang gekommen: das Verständnis für die vielen Erklärungen der Welt und des Lebens, die Einsicht, daß vor allem der Dialog zwischen den Religionen, also zwischen den Menschen, nie abbrechen darf.