Eine Rezension von Karla Kliche


Komplex und multipel statt festgenagelt

Dietrich Hoffmann/Gerhart Neuner (Hrsg):

Auf der Suche nach Identität

Pädagogische und politische Erörterungen eines gegenwärtigen Problems.

J. Beltz. Deutscher Studien Verlag, Weinheim 1997, 342 S.

Der Begriff hat Konjunktur: DDR-Identität (inzwischen aber eher weniger gebraucht), Ost-Identität. West-Identität? Fehlanzeige: Eine solche wird so gut wie nicht reflektiert.

Der Band geht aus der Perspektive von (überwiegend) Erziehungswissenschaftlern den Implikationen dieses Begriffs nach, doch macht diese spezifische Sicht auf die Problematik ihn nicht zum Spezialbuch nur für Pädagogen; die Art, was hier wie diskutiert wird, empfiehlt ihn durchaus auch für einen breiteren Leserkreis. Die im Band versammelten 16 Beiträge sind aus den Vorträgen eines Symposiums an der Universität Göttingen entwickelt worden, dem vierten einer Reihe, die sich mit den Pädagogiken in „Deutschland“ befaßte, veröffentlicht in drei Bänden im selben Verlag: Die Teilung der Pädagogik (1945-1965); Divergenzen und Konsequenzen (1965-1989); Die Vereinigung der Pädagogiken (1989-1995). Dies sei hier unter anderem deshalb erwähnt, weil - wie die Herausgeber schreiben - die Diskussion von „Identität“ sich aus dem vorangegangenen Symposium zwangsläufig ergab. Die Autoren repräsentieren übrigens paritätisch Ost- und West-Erfahrungen, wobei es wohl nicht sehr fehl geht zu verallgemeinern, daß die „Westautoren“ mehr theorie-, die „Ostautoren“ eher praxis- bzw. erfahrungsbezogen diskutieren. Das ist bei diesem Gegenstand nicht verwunderlich.

Abgesehen davon, daß das Problem Identität bereits in der Antike reflektiert wurde, stellte es sich verstärkt seit der Aufklärung und unübergehbar seit der Moderne. Die NS-Zeit hat es auf ihre Weise aus der Diskussion genommen. In der Nachkriegszeit wurde der Problemkreis „Identität“ - eher eine mehrdeutige Bezeichnung als ein eindeutiger Begriff, wie Reinhard Uhle schreibt - in der alten BRD in den 60er Jahren von der amerikanischen Soziologie bzw. Sozialpsychologie übernommen (und - erst - in den 70ern von der Erziehungswissenschaft aufgegriffen), bezeichnenderweise, wie dem Band zu entnehmen ist, unter Betonung der Ich-Identität, während die amerikanische Theorie eine Ich-Wir-Identität modellierte. Diese Ich-Betonung scheint mir nachvollziehbar, war doch eine Wir-Identität durch die faschistische Ideologie diskreditiert, auch wenn die Generation der davon Geprägten sie in der Nachkriegszeit nicht einfach ablegen konnte. Es mußte also erst eine neue Generation heranwachsen, die empfänglicher war für Theorien, die dem Ich (wieder) einen Stellenwert zuwiesen. Erklärt das die einseitige Rezeption der amerikanischen Theorien, wird dem Band auf der anderen Seite ablesbar, daß die Gesellschaft in der Gegenwart an den Folgen trägt, da diese einseitige Ich-Betonung zu Verantwortungslosigkeit und Entsolidarisierung führte. Für die DDR wird ein Auftauchen des Begriffs für die 80er Jahre konstatiert. Mit Sicherheit auch hier generationenbedingt, meine ich: Zu den Prägungen im Dritten Reich kam hier auch die Kollektiv-Ideologie zur Auswirkung, wonach „das Individuum nichts, das Kollektiv alles“ sein sollte. Daß man sich damit nicht auf Marx und das Kommunistische Manifest berufen durfte, hat Stephan Hermlin mit seiner erstaunten und erstaunlichen Re-Lektüre in Abendlicht festgehalten. Das war 1982 und ging wohl konform mit veränderten Erfahrungen Jüngerer, sicher auch mit der Rezeption der westdeutschen Diskussionen über die Medien. Daß in den 70er Jahren in der DDR viel über das Verhältnis Individuum-Gesellschaft diskutiert wurde, hatte letztlich den Vorrang des Kollektiven nicht aufgehoben.

Es lassen sich - zusammenfassend - Charakteristika benennen. Identität ist in dem hier vorgeführten Verständnis nichts Festes, andere(s) Ausgrenzendes. Die durch die Moderne erforderliche Flexibilität der Persönlichkeit, ihr Agieren in sehr verschiedenen gesellschaftlichen „Räumen“, die „Rollen“, die das Ich im Laufe des Lebens „spielen“ muß, fordern ihm Verhalten zu unterschiedlichen „Wir“ ab, die ihrerseits auf das Ich wirken und zu verarbeiten sind oder auch abgewehrt werden können, was andererseits aber auch auf ein „Wir“ zutrifft. Es kommt zu Identitätskrisen, -wandel (und mitunter schmerzlichen Identitätsbrüchen bzw. -verlust). Dieses Komplexe und Multiple um einen gewissen stabilen Identitätskern wird nun in postmodernen Theorien derart betont, daß am Ende Personenbeschreibungen erstehen, wo das Ich z. B. seinen Standpunkt derart ändere, daß es heute das Gegenteil von gestern sage oder hier und dort Gegenteiliges vertrete.

In vielen Beiträgen anklingend und in dreien intensiver diskutiert wird das Problem nationaler Identität (dies ein Teil der „politischen Erörterung“ aus dem Untertitel; der andere Teil betrifft die Krise der Schule in der BRD). Wird nationale Identität von verschiedenen linken Positionen nach den NS-Erfahrungen strikt in Abrede gestellt, zeigt vor allem die Vereinigungswirklichkeit, daß das, was in der Alt-BRD nicht thematisiert wurde bzw. im (nach amerikanischem Vorbild) „Verfassungspatriotismus“ aufgehoben wurde, sowie die Nichtakzeptanz eines „sozialistischen Nationalbewußtseins“ (gemäß der Zwei-Nationen-Theorie) durch die DDR-Bevölkerung das Verlangen nach „deutscher Identität“ höchstens verdrängt hat. Erfolge rechtsextremer Losungen und einfacher, dumpfer Welt-Erklärungen vor allem (aber nicht nur) bei Jugendlichen belegen das. Sicher, so zeigt auch der Band, ist „Nation“ eine historische Kategorie, aber als solche verschwindet sie nicht in kurzer Zeit und auch nicht durch ein gemeinsames Europa. Als Teil von „räumlichen Identitäten“ - örtlichen, regionalen, nationalen, kontinentalen - bleibt sie zumindest relevant, solange Nachbarn sich auf nationale Identität berufen (die damit nicht das Problem wie Deutsche haben müssen). Sie läßt sich nicht in einer europäischen oder menschheitlichen Identität „verdunsten“, wie es im Band heißt. Bernd Mütter bietet den Begriff einer „neuen deutschen Identität“ an, dem in bewußter Entgegensetzung zum Nationalistischen und Autoritären oder sogar dem „Bluthaften“ des alten nationalen Identitätsverständnisses das Demokratische eingeschrieben ist, das der Pluralität von Meinungen, politischen Standpunkten, Zielsetzungen Rechnung trägt. Seine These: Ohne eine neue deutsche Identität könne die innere Wiedervereinigung nicht gelingen.

Dem Geschichtsbild und damit dem Geschichtsunterricht käme dabei eine wesentliche Rolle zu. Die heutige Situation verlange ein Wiederanknüpfen an die Ausgangssituation von 1945 und die Aufhebung der seitdem gemachten unterschiedlichen Geschichtserfahrungen im Zukunftsprojekt einer „neuen deutschen Identität“. Wohl ein langer Prozeß. Denn wie sieht es heute damit aus? Gerhart Neuner untersucht in seinem Beitrag unter anderem das Geschichtsbild für die Zeit nach 1945, wie es sich in Schullehrbüchern der Gegenwart niederschlägt. Wenn aus der Untersuchung ein Fazit zu ziehen ist, dann dieses: Dominant ist die Geschichte der (alten) Bundesrepublik; die DDR ist dazu ein Appendix (mal länger, mal kürzer), zudem mit zahlreichen Klischees behaftet. Verwundert sei allerdings angemerkt, daß er in seinem Aufsatz Begriffe wie „Schicksalsgemeinschaft“, (S. 243) „Asylanten“, „Wohlfahrtsflüchtlinge“ (S. 246), derart unreflektiert verwendet. Hier wäre hinsichtlich einer „neuen nationalen Identität“ ein neues Zusammendenken der deutschen Teilungsgeschichte erforderlich. Das ist auf alle Fälle schwierig, weil es dafür keine methodischen Erfahrungen gibt; aber gut schon wäre ein Wollen.

Und damit sind wir bei den angeführten Ausgangsbegriffen. Dieter Kirchhöfer erklärt „DDR-Identität“ als bisher in der Sozialgeschichte einmaligen Vorgang: Unter fremdbestimmter Transformation bilde sich nachträglich eine nationalstaatliche Identität heraus. Das Bewegliche, das der Identitätsbegriff in sich trägt, zeigt sich wohl auch darin, daß „Ost-Identität“ zunehmend „DDR-Identität“ ersetzt, ist doch z. B. in den Jahren nach der Vereinigung eine Generation herangewachsen, die die DDR bewußt kaum noch erlebt hat, andererseits aber mit der älteren durchaus aktuell ähnliche Erfahrungen teilt, vor allem die der Westdominanz auf vielen Ebenen des Alltagserlebens ... Hier steht ein Wechselspiel von Ich-Identität und Wir-Identitäten an, das ohne eine kritische westliche Identitätsreflexion allerdings nicht funktionieren kann.

Für nicht spezifisch erziehungswissenschaftlich interessierte Leser sei übrigens der Beitrag von Gustav Meier (Identitätsvermittlung durch Wochenschauen und Spielfilme im Nachkriegs deutschland) empfohlen sowie die biographischen Recherchen von Christa Uhlig, die zeigen, wie der „Zwang zur Wahrung von Identität unter extremer Belastung“ zu einer Katastrophe führen kann.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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