Eine Rezension von Heinz Niemann


Gewagt und verloren

Monika Kaiser: Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker

Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962-72.

Akademie Verlag, Berlin 1998, (Zeithistorische Studien; Bd. 10) 480 S.

Mit diesem Buch gibt die Autorin jenen interessierten Lesern, aber vor allem auch damaligen Akteuren, die schon seit längerem ein anderes nuanciertes Bild des alten Ulbricht mit sich herumtrugen, als es sowohl durch die SED-Geschichtsschreibung unter Honecker als auch durch die bundesrepublikanische Historiographie geprägt wurde, eine solide faktologische Grundlage und Erinnerung stimulierendes Material in die Hand, durch das sie sich bestätigt fühlen dürften.

Das in fünf Kapitel gegliederte Buch beginnt mit einer Einleitung, deren erster Satz bereits ein symptomatisches Paradoxon enthält: „Den Historikern der DDR galten die ,ungeliebten‘ sechziger Jahre zumeist als eine wenig ereignisreiche und demzufolge auch historiographisch relativ unergiebige, ja vielleicht sogar uninteressante Periode.“ (S. 11)

Die historische Wahrheit ist: Es waren die besten und spannendsten Jahre der DDR, in denen die Hoffnung auf das Gelingen dieses alternativen Gesellschaftsversuchs auf deutschem Boden eine kurzzeitige, aber reale Grundlage hatte und sich die SED der Zustimmung einer großen Zahl der Bevölkerung erstmalig sicher sein konnte. Diesen Beweis für ersteres will die Autorin zwar nicht antreten, liefert dafür aber eine Menge Material, und manche ihrer Wertung zeigt indirekt in die gleiche Richtung. Der ehemalige DDR-Akteur wird im Unterschied zu den Interessen des Außenbetrachters weniger von den Intrigen innerhalb und zwischen den Machtcliquen gefesselt sein, dafür eher mit masochistischer Spannung den dargestellten verschiedenen Reformansätzen und Demokratisierungsbestrebungen folgen. (Aus akzeptablen Gründen zur Beschränkung fehlen allerdings solche Reformen wie die 3. Hochschul- und die Akademiereform.) Im ersten Kapitel zur SED im Herrschaftssystem wird wenig Neues geboten, zumal inzwischen eine seriöse Gesamtdarstellung (bei Dietz Berlin) dazu vorliegt. Unerfreulich ist die deutlich werdende Tendenz, dem Zeitgeist und der eigenen Legitimation geschuldete verbale Unterwerfungsrituale gegenüber dem Totalitarismusparadigma zu artikulieren. Wichtig ist dagegen die Hervorhebung des hohen Grades erzwungener und freiwillig eingegangener Abhängigkeit von der sowjetischen Führungsmacht. Dieser Satrapenstatus der SED-Führung, die durch die behauptete ideologisch-politische Einheit und Geschlossenheit kaschierte umfassende Unterwerfung war und ist selbst von der damaligen westlichen Geschichtsschreibung und Kommunismusforschung nicht in ihrem ganzen, letztlich zerstörerischen Umfang beachtet worden.

Im zweiten Kapitel wird gerade dieser Umstand am Beispiel des existentiellen Versuchs einer Wirtschaftsreform in den Jahren 1962-1966 überzeugend demonstriert. Über bisherige Darstellungen hinausgehend, werden die treibende Rolle Ulbrichts sowie Hintergründe und Ursachen des Scheiterns dokumentarisch belegt. Besonders wichtig ist die Einordnung des 11.Plenums des ZK der SED, das als Kulturplenum einen kulturpolitischen und gesellschaftlichen Rückfall einleitete, dessen Zustandekommen und Zweckbestimmung seitens der Anti-Ulbricht-Fronde um Honecker in der Geschichtsschreibung bisher falsch interpretiert wurde.

In der Nachwende-DDR-Geschichtsschreibung wird zweifellos zu Recht als eine entscheidende Ursache des Scheiterns das Demokratiedefizit hervorgehoben. Dieses 2. Kapitel macht zusätzlich deutlich, wie die (nach der Überwindung der gröbsten Kriegs- und Spaltungsfolgen und dem Erlaß der Restreparationen) fortbestehende Abhängigkeit der DDR-Wirtschaft von den rückständigen, defizitären Volkswirtschaften des RGW verhinderte, daß die alles entscheidende ökonomische industrielle Basis infolge der Moskauer Verweigerung einer eigenständigen Wirtschaftsreform zur Grundlage einer modernen (sozialistischen) Gesellschaft werden konnte, wodurch auch bei Strafe ihrer Gefährdung der Demokratisierung Grenzen gesetzt waren. Von dieser Erkenntnis ließ sich Ulbricht in seiner Reformpolitik ebenso leiten, wie es sein Verhalten gegenüber dem Prager Frühling erklärt. Das spätere Versagen Gorbatschows und der Untergang selbst einer solchen Weltmacht wie der UdSSR bestätigt, wohin die Verletzung dieses objektiven Zusammenhangs zwischen leistungsstarker ökonomischer Basis und politischem und geistig-kulturellem Überbau führt. Im dritten Kapitel über „Erstickte Liberalisierungstendenzen in der Jugend- und Kulturpolitik 1963 bis 1966“ wird der spannende Liberalisierungsversuch der Modernisierer um Ulbricht auf zwei weiteren wichtigen Gesellschaftsfeldern geschildert und wie er an den bornierten machtpolitischen Intrigen der Clique um Honecker mit Hilfe Breshnews scheiterte. Richtig werden die bisher meist von der Geschichtsschreibung unterschätzten fatalen Folgen des Sturzes Chruschtschows für Demokratisierungs- und Modernisierungsbestrebungen in einigen der Satellitenstaaten des sowjetischen Machtblocks dargestellt und auch mit der Legende aufgeräumt, Ulbricht habe zu den Einpeitschern der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings gehört. Das eher gegenteilige Taktieren Ulbrichts, bisher hauptsächlich von der „oral history“ durch beteiligte Mitstreiter in Publikationen (darunter auch des Rezensenten) behauptet, kann nun als quellenmäßig bestätigt gelten.

Im vierten Kapitel „Einheit und Konflikt in außenpolitischen und speziell deutschpolitischen Fragen 1965 bis 1970“ wird deutlich, wie Ulbricht an den ihm von der Moskauer Führung und ihren Erfüllungsgehilfen in der SED-Spitze angelegten Fesseln zerrte, für eine neue Westpolitik nach der Bildung der Brandt-Regierung eintrat und durch verbesserte Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten das Eigengewicht der DDR gegenüber der Hegemonialmacht zu vergrößern trachtete. Die Darstellung und Analyse des Erfurter Treffens Brandt - Stoph wird hervorragend genutzt, um zu zeigen, wie die Betonfraktion des nur um seine Nachfolge kämpfenden Honecker die Hochrufe auf Brandt als Beweis für die Gefährlichkeit des Ulbrichtschen Kurses mißbrauchte und bei Breshnew erneut die rasche Ablösung Ulbrichts erbat. Leider scheint die Quellenlage nicht mehr darüber herzugeben, welche weitergehenden Ambitionen Ulbricht als ein zunehmend selbstbewußter und weitsichtiger Machtpolitiker mit seiner Deutschlandpolitik verfolgte. Noch herrscht in der Publizistik der Eindruck vor, es sei Honeckers Politik zu verdanken, daß es zur Anerkennung der DDR durch die BRD kam, während es in Wirklichkeit durch ihn gemäß den Moskauer Erwartungen zur Preisgabe eines Essentials Ulbrichtscher Strategie kam, nämlich wesentlich weitergehende Beziehungen (anstatt Abgrenzung) mit einem sozialdemokratisch regierten Westdeutschland unmittelbar mit der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR unter Aufgabe des gesamtdeutschen Staatsbürgerschaftsanspruchs zu verbinden. Mit den Erfahrungen des Untergangs der DDR kann ermessen werden, welche Bedeutung es für die ostdeutsche Bevölkerung hatte, daß Ulbrichts Konföderationspläne an den Intrigen der von Moskau gesteuerten Honecker-Gruppe scheiterten.

Dieses traurige Kapitel von DDR- und SED-Geschichte wird abschließend (Kapitel 5: Das Ende der Ära Ulbricht) geschildert. Seit einigen Jahren weiß man, daß das Ende der Ulbricht-Ära auch der Anfang vom Ende der DDR war. Wie eng unter den Bedingungen des poststalinistischen Regimes der geschichtsmächtige Zusammenhang zwischen ,Persönlichkeit‘ und ,Volksmassen‘ war, wird hier besonders anschaulich. Als Produkt des stalinistischen Nomenklatura-Systems wurde Ulbricht beim Versuch, dieses System zu modernisieren und zu effektivieren, um es partiell durch ein obrigkeitsstaatliches Regime zu ersetzen, letztlich Opfer des von ihm selbst mitgeschaffenen Systems. Als er auf übliche despotische Manier Honecker verhindern wollte und ihn absetzte, war es zu spät. Auf demokratische Rückendeckung konnte oder mochte er nicht setzen, so daß ihm nur die Kapitulation blieb.

Alles in allem ein lesenswertes Buch, auch für den Spezialisten, lehrreich selbst dort, wo der durch jahrzehntelange ideologisierte Hofgeschichtsschreibung besonders sensibilisierte und deshalb allergisch reagierende Leser mit grimmigem Mißvergnügen solches neuerlich feststellen sollte.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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