Eine Rezension von Horst Möller


Wählen, das heißt: herausheben

Chronik vom Petersberg (Cronica Montis Sereni) nebst der Genealogie der Wettiner

Übersetzt und erläutert von Wolfgang Kirsch.

fliegenkopf Verlag, Halle 1996, 287 S., 22 Abb.

Irgendwie war der Chronist des Augustiner Chorherrenstiftes auf dem Petersberg bei Halle an der Saale doch sehr seiner Zeit voraus. Bereits um 1230 bei Niederschrift der - jetzt in erster deutscher Übersetzung vorliegenden - Klosterchronik beklagte er den Niedergang und Verfall mönchischen Lebens. Es dauerte ja dann immerhin noch bis zur Reformation, ehe das damals von niemandem vorhersehbare Ende eintrat und auch dieses Kloster säkularisiert wurde. Wie der tugendsame Mann für die Nachwelt festgehalten hat, sei es in seinen Tagen dahin gekommen, „daß von Knechten des Klosters verbreitet wurde, Weiber seien ins Stift eingelassen worden, und dies Gerücht verbreitete sich derart, daß in den Dörfern und auf den Burgen der Umgebung sogar Spottlieder darüber gesungen wurden; auch eine Frau selbst erzählte, gewissermaßen aus Prahlerei, wie solche Weiber zu tun pflegen, allen, die es hören wollten, sie sei im Kloster gewesen.“ Von solcherart Verderbtheit ist auch aus entfernterem und näherem Umkreis zu vernehmen. Über Sophia, die Äbtissin von Quedlinburg, wird berichtet, daß „sie vielfach der Verschleuderung von Kirchengut sowie fleischlicher Sünde und der Vernachlässigung der Ordensregel beschuldigt (war) und allen überall Stoff (bot), über sie zu reden“. Über Schkölen, wo der Abt des Pegauer Stiftes einen Mönch mit der Verwaltung der dortigen Propstei betraut hatte, erfährt man, daß da der Propsthof, „wenn sich der Probst bisweilen entfernte, während dieser Zeit gewissermaßen eine hohe Schule der Würfel-, Schach-, Stein- und Kugelspieler (war), und - passend zu diesen Studien - sie, da einer der Bediensteten des Kellermeisters dort einen Wein- und Metverkauf eingerichtet hatte, den Eindruck einer öffentlichen Schenke (erweckte)“.

Was unseren Annalisten damals so sehr empörte, lesen wir Nachgeborenen amüsiert mit der Kenntnis einschlägiger anekdotischer Schilderungen (Boccaccio, Aretino), mit denen sich die Neuzeit überlegen heiter vom Mittelalter verabschiedet hatte. Aber außer daß sich unser Kanonikus den Zorn von der Seele schreibt, weiß er auch Ursache und Wirkung aufzuhellen, und zwar derart klarsichtig, daß man meinen könnte, es stünden heutige Verhältnisse an. Auf dem h. Petersberg war mit Dietrich, einem Sohn des Kämmerers Hermann von Landsberg, einer zum Propst gewählt worden, der die ihm anvertraute Pflege äußerst unpfleglich versah, wie unser Chronist zu verstehen gibt. Um sich in den Augen möglichst vieler durch mancherlei Zuwendungen als ein Herausgehobener zu erweisen, hatte Propst Dietrich diverse Stiftsländereien veräußert, was zur Folge hatte, daß bei der nächsten Hungersnot die Mönche des einst reichen Klosters in die umliegenden Dörfer um Brot betteln gehen mußten. Wenigstens „Buße tun für die Sünden, derentwegen sie es verdient hatten, einem Unnützen untertan zu sein,“ sollten die Betroffenen nun nach unseres Chronisten letztem Wort in diesem traurigen Kapitel.

Wer dieser Mahner und streitbare Geist eigentlich war und von wann bis wann er gelebt hat, ist ebenso unbekannt wie, welchen Todes er gestorben ist. Man muß wissen, daß Gerechte schon dazumal nicht ganz ungefährlich lebten. Dem Abt von Pegau, der sehr wohl ein waches Auge auf den besagten Mönch der Propstei Schkölen hatte, widerfuhr zum Beispiel folgendes: Ihm wurde von diesem lockeren Gottesknecht bei einem gelegentlichen Besuch eine Speise gereicht, deren Wirkung „binnen kurzem alle, die davon gekostet hatten, zu spüren bekommen (haben). Zwar erkrankte auch der Abt so schwer, daß man bereits alle Hoffnung aufgegeben hatte, doch wurde er mit Gottes Beistand gerettet, sein Bruder aber sowie zwei Maurer und vier Knechte sind daran gestorben. Den Mönch jedoch, der, wie man glaubte, der Urheber dieses ungeheuerlichen Verbrechens war, entfernte der Abt nicht allein aus der Verwaltung dieser Propstei, sondern auch aus dem Stift Pegau; er selbst nahm von da an Speisen mit größerer Vorsicht zu sich. Man hat immerhin über 26 Mönche gezählt, die er zu unterschiedlichen Zeiten aus ähnlichen Gründen verbannt haben soll.“ Wem über dieser schaurigen Mär vorschnell die Floskel vom finsteren Mittelalter in den Sinn kommt, der sollte immer schon mal auf Meldungen gefaßt sein, die womöglich vor Arsen in Dr. Oetkers teurem Vanillepuddingpulver warnen.

Durch diese Chronik gewinnen die scheinbar so weit entrückten einhundert Jahre von 1124 bis 1225, über die berichtet wird, überraschende Nähe. Die Aura, die den von einer romanischen Stiftskirche bekrönten Hügel umweht, ist mit einemmal viel dichter als vorher. Es hatten ja aber auch diese weithin sichtbare Erhebung nicht von ungefähr einst Goethe bestiegen und Heinz Czechowski bedichtet („Der Petersberg, von Goethe bestiegen, dahinter/Die Zuckerrübensteppe von Anhalt“). Das Verdienst, diesen Schatz ans Licht gefördert zu haben, kommt dem in Röblingen am See beheimateten Mittellateiner Wolfgang Kirsch zu. Daß seine Arbeit, die in ihrer Weise derjenigen der mansfeldischen Kupferbergleute sehr ähnlich gewesen sein dürfte, die Mühe gelohnt hat und der Verlag inzwischen die erste Auflage fast ausverkaufen und bereits eine zweite Auflage bei ThomasDruck in Leipzig-Plagwitz anvisieren konnte, gehört zu den etwas erfreulicheren Meldungen unserer Tage.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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