Eine Annotation von Sven Sagé
Pruys, Karl Hugo:
Die Liebkosungen des Tigers
Eine erotische Goethe-Biographie.
edition q, Berlin 1997, 218 S.
Goethe hat es gegeben. Das ist die Wahrheit. Goethes Liebesleben ist eine Legende. Sie ist Dichtung. Vom Dichter erdichtet. Dem Dichter von gläubigen Adepten angedichtet. Wolfgang war weder liebestoll noch toll in der Liebe. Oder müßte es heißen, im Lieben, weil die Leidenschaft des Leibes gemeint ist. Der stürmisch-drängende Werther-Liebhaber war in Wirklichkeit ein Spätentwickler. Die erotische Goethe-Biographie genauer angeschaut, stellt sich heraus, daß das begehrte Weib erst dem Enddreißiger sexuelle Begierden erfüllte. Erst der 57jährige ehelichte seine Lebensgefährtin. Goethe liebte die Liebe. Nicht die eine, einzige, einfache Art des körperlichen Liebens. Der Liebende liebte auf seine Weise, wenn er zu lieben vermochte. Also den Sohn Fritz mehr als die Mutter: Charlotte von Stein. Also den lebenslangen Freund Fritz Jacobi mehr als die Mutter seines Sohnes August: Christiane Vulpius. Nun zu schlußfolgern, daß Deutschlands prominentester literarischer Platzhirsch ein versteckter Schwuler war, ist zu simpel und nicht einmal mehr der Stoff für eine saftige Skandalstory wert. Zumindest seit jeder die Tagebücher eines anderen Patriarchen lesen kann, der Thomas Mann hieß. Wieso hat Thomas den gleichgesinnten Gefühlsverwandten Wolfgang nicht gespürt? Mußte erst Karl Hugo Pruys kommen, ein ausgewiesener Biograph, um unbekümmert festzustellen, was längst hätte festgestellt werden können? Nämlich, daß der Olympier von Weimar seine Neigung zur griechischen Liebe herrschender Sitte und gesellschaftlichen Konventionen opferte. Was sagt, daß Goethes latente Homosexualität keine gelebte Sexualität war? Gelegentlich läßt Pruys Vermutungen durchschimmern, mit welchem Kerl es der Wolfgang gehabt haben könnte. Ist das die endgültige Entthronung eines Weiberhelden? Der Autor, der die erotische Lebenslinie des Wortmaestros analysierte, behauptet nicht nur. Er zitiert die Dichtungen des Dichters, die auf Liebeswünsche hindeuten, die sich der Dichtersmann sehnend versagte. Oder nicht. Ach Gott, Goethe. Armer Goethe!