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Helmut Hirsch

Märkische Entdeckungen
Mit dem Wanderer Fontane unterwegs

 

Auf einem im Zweiten Weltkrieg verschollenen Bild von Carl Blechen (Semnonenlager am Müggelsee) erkannte der Apotheker, Balladendichter, fahrende Journalist, Kriegsberichter und Erzähler Theodor Fontane die Vorfahren der Märker wieder: „Angeglüht von dem Dunkelrot der Flamme, lagern die germanischen Urbewohner des Landes mit einem wunderbar gelungenen Mischausdruck von Wildheit und Behagen.“

Auch um herauszufinden, was jene „Wildheit und Behagen“ der Bewohner der Mark bestimmte, durchwanderte Fontane jahrelang die Gegend zwischen Oder und Elbe. Die Idee dazu war ihm in der schottischen Grafschaft Kinross gekommen. Im August 1858, während einer Bootsfahrt auf dem Leven-See, war ihm das Bild des Rheinsberger Schlosses wie eine Fata Morgana erschienen. 1861 erinnert sich Fontane an das damalige Erlebnis so: „So schön dies Bild war, das der Leven-See mit seiner Insel und seinem Douglas-Schloß vor dir entrollte, war jener Tag minder schön, als du im Flachboot über den Rheinsberger See fuhrst, die Schöpfungen und die Erinnerungen einer großen Zeit um dich her? Und ich antwortete: nein. - Die Jahre, die seit jenem Tag am Leven-See vergangen sind, haben mich in die Heimat zurückgeführt, und die Entschlüsse von damals blieben unvergessen. Ich bin die Heimat durchzogen, und ich habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte. Jeder Fußbreit Erde belebte sich und gab Gestalten heraus, und wenn meine Schilderungen unbefriedigt lassen, so werd ich der Entschuldigung entbehren müssen, daß es eine Armut war, die ich aufzuputzen oder zu vergolden hatte. Eine Fülle, ein Reichtum sind mir entgegengetreten, denen gegenüber ich die bestimmte Empfindung habe, ihrer niemals auch nur annähernd Herr werden zu können; denn das immerhin Umfangreiche, das ich in Nachstehendem biete, ist auf wenigen Meilen eingesammelt: am Ruppiner See und vor den Toren Berlins. Und sorglos hab ich es gesammelt, nicht wie einer, der mit der Sichel zur Ernte geht, sondern wie ein Spaziergänger, der einzelne Ähren aus dem reichen Felde zieht.“ So entstanden die vier großen Bände der Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Fontane nannte sie schlicht Reisefeuilletons, in denen er „Landschaftliches und Historisches, Sitten- und Charakterschilderung“ vereinte. Hierbei wollte der gebürtige Neuruppiner hugenottischer Abstammung (also kein Ur-Märker) anwenden, was er in der Welt gesehen und gelernt hatte. In jedem Herrensitz, in jeder Kirche und Kate boten sich ungeahnte Entdeckungen. Geschrieben wurde „unter Zutun und Hülfe meiner über die halbe Provinz hin zerstreuten Mitarbeiter“. Das waren nicht nur die Nachfahren ehrwürdiger Adelsfamilien. Auch liefen ihm genügend redselige und gut informierte Landpfarrer, dazu vielwissende Garnisonschullehrer, pausenlos plaudernde Krüger und Küster, Kutscher und Kossäten über den Weg. Durch Erfahrung wurden Vorurteile abgebaut. Die „so viel verklagten Junker“, wird er später notieren, sind „anders und besser, und es ist nur Pflicht und Wahrheit, wenn ich an dieser Stelle versichere, daß ich einer langen Gesprächsreihe mit ihnen eine Zahl allerglücklichster Stunden verdanke, Stunden voller Anregung und Belehrung, in betreff deren es gleich war, ob das Gespräch in Haus oder Heide, vorm Kamin oder auf dem Pirschwagen geführt wurde“. Von einer „Enge der Anschauungen“ war beim Adel nichts zu spüren. Und ein anderes Vorurteil, daß die Landpastoren unduldsam seien, bestätigte sich nicht. Mit ihnen kam „die ganze Landpastoren-Schwärmerei meiner jungen Jahre wieder ins Leben zurück“. Sie boten ihm reichlich Stoff und Form. Nicht minder die Lehrer. Sie alle eröffneten ihm eine erstaunliche, eine abenteuerliche Welt. Fontane hörte von im Sumpf Erstickten und in der Spree Ertrunkenen, von plündernden Österreichern und Russen im Siebenjährigen Krieg, von Brandstiftungen, Epidemien und Kugelblitzen, von Bruder-, Kinds- und Selbstmördern, von Hurenkindern, Hochwasser- katastrophen, Monstergeburten und sogar von Hexenverbrennungen. Das alles barg der vielverschrieene märkische Sand. Nicht allen Erwartungen seiner zeitgenössischen und heutigen Leser konnte der Wanderer Fontane gerecht werden. „Zu einer künstlichen Größe“ mochte er die Mark allerdings nicht „heraufpuffen“. So kam es, daß nach Erscheinen der Wanderungen durch die Mark Brandenburg nicht nur der Adel herummäkelte. Obwohl doch gerade den Dynastien der Jagow, Lochow, Stechow, Bredow, Quitzow und Rochow, aber auch Ribbeck, Bülow, Arnim, Zieten und Groeben literarische Denkmäler gesetzt worden waren. Auch damalige Lokal- und Hurra-Patrioten fanden Fontanes Bücher nicht patriotisch, Wissenschaftler nicht wissenschaftlich genug. Fortschrittlern waren sie zu konservativ.

Es hatte Fontane zudem irritiert, daß bei Kritikern und Lesern die Prosa der frühen Romane gegen die Prosa der „Wanderungen“ weniger gut wegkam. Gegenüber Julius Rodenberg, Verfasser dreier weithin gerühmter Bände Bilder aus dem Berliner Leben, äußerte sich Fontane im Brief am 13. Dezember 1872 so: „Eine große Freude haben mir Ihre Worte über mein Buch (dritter Band der gerade erschienenen ,Wanderungen‘, H. H.) gemacht; die Teilnahme, die es überhaupt findet, gibt mir zu denken. An Talent, an Stoffinteresse stehen diese Wanderungsbücher nicht über dem, was ich sonst wohl schreibe; woran liegt es, daß sie so ungleich mehr wirken als andres aus meiner Feder? Lokal- und Provinzialinteresse, Heimatsgefühl, Jugenderinnerungen, verschämte Neigung für das, was der großen Mehrheit als jeder Neigung unwert erscheint - all dies kommt vielleicht zusammen.“

Zu allen Zeiten drängt das lesende Publikum, allen voran die Kritiker, den Autor in eine Doppelrolle, sofern er auf zwei Ebenen tätig ist. Für Fontane war es eigentlich ein angenommener und produktiver Zwiespalt. Sowohl Erzähler als auch „Wanderer“ zu sein, entsprach seinem Naturell und seinen Fähigkeiten. Von seinen übrigen Fähigkeiten, ein guter Balladendichter und ein exzellenter Briefschreiber zu sein, soll hier nicht die Rede sein. In einem Brief an Wilhelm Friedrich vom 19. Januar 1883 macht er seinem Ärger Luft: „Die gesamte deutsche Presse verfolgt, mir wie andern gegenüber, beständig den Zweck, einen bestimmten Schriftsteller an eine bestimmte Stelle festnageln zu wollen. Es ist das Bequemste. Mein Metier besteht darin, bis in alle Ewigkeit hinein ,märkische Wanderungen‘ zu schreiben; alles andre wird nur gnädig mit in den Kauf genommen.“

Kehren wir jetzt an die Anfänge der „Wanderungen“ zurück. Im Juli 1873 sehen wir Fontane die Ruppiner Schweiz und die Gegend um Rheinsberg durchstreifen. Er ist beeindruckt von der Idyllik der Natur, in die aber plötzlich doch Geräusche einbrechen. Fontane versucht abzuwägen: „Mit angespannten Sinnen lauschest du, ob nicht doch vielleicht ein Laut, ein leisester nur, zu hören sei. Da endlich beginnt das Klingen des Waldes, die Rätselmusik der Einsamkeit. Der See ist glatt und sonnenbeschienen, aber es ruft aus ihm; die Bäume rühren sich nicht, aber es zieht durch sie hin; aus dem Walde klingt es, als würden Geigen gestrichen; nun schweigt es und ein fernes, fernes Läuten beginnt. Ist es Täuschung oder ist es mehr? Ein wachsendes Bangen kommt über dich, bis plötzlich das Klappern der Mühle neu beginnt, und der schrille Ton der Säge den Mittagszauber zerreißt.“ Es tut gut, Fontane gerade in solch spannender Situation zu erleben, denn dies ist eine wenig beachtete Seite seiner Wander-Kapitel. Hier, inmitten der Ruppiner Schweiz, mag es überhaupt am schönsten sein. Auch Fontane fiel es nicht leicht, den schönsten Ort, „den vollsten Reiz“ dieser Gegend zu benennen. Und so bringt er auf einen Reim, was nicht auf einen Punkt zu bringen ist: „Ist’s norderwärts in Rheinsbergs Näh’? / Ist’s süderwärts am Molchow-See? / Ist’s Rottstiel tief im Grunde kühl? / Ist’s Kunsterspring, ist’s Boltenmühl? / Ist’s Boltenmühl, ist’s Kunsterspring? / Birgt Pfefferteich den Zauberring? / Ist’s Binenwalde? - nein, o nein,/ Wohin du kommst, da wird es sein, / An jeder Stelle gleichen Reiz / Erschließt dir die Ruppiner Schweiz.“

Dann sehen wir den Wanderer durch den Menzer Forst zum Großen Stechlin fahren. Zu Fuß ist immer die Ausnahme. In diesem Wald wurden seinerzeit, als in Berlin der große Aufbruch begann, Bau- und Brennholz geschlagen. Vorbei an Teeröfen, Forsthäusern und Glashütten geht es. Und Fontane lädt ganz unvermittelt den Leser zur Mitfahrt ein: „Es ist noch Platz auf dem Pürschwagen; vorn der Kutscher und der Herr, aber neben mir, auf der zweiten Bank, wartet seiner noch ein Kissen und eine Decke. Die Zeit für die letztere wird kommen, wenn die Sonne unter ist; aber die Zeit für das Kissen ist schon da, denn über Stubben und Wurzeln weg geht es bereits weglos, holterdiepolter in den Wald hinein ... So still ist der Wald, und doch erzählt er uns auf Schritt und Tritt, freilich mehr Ernstes als Heiteres. Wo der Pascher (Schmuggler, H. H.) ein Jahrhundert lang zu Hause war, wo Förster und Wildschütz ihre ewige Fehde führen, wo der Sturm die Bäume bricht und die tiefen Waldseen, die von alter Zeit her den Hang nach Menschenopfern haben, ihre schmalen Arme polypenhaft-phantastisch durch den Wald strecken, da sind immer ,Geschichten‘ zu Haus.“

Fontane sieht es nicht romantisch, aber auch nicht sensationsgierig. Er meint, wollte man all die Geschichten in diesen Wäldern notieren, wäre man noch am besten beraten, Tabellen anzufertigen. Drei Rubriken genügten schon: erschlagen, erschossen, ertrunken. Zum Glück gibt es auch andere Orte. In Köpernitz sitzt er später im Gutshaus, und am Kamin gibt es andere Gespräche, umgeben von Porträts einst Lebender. „Die Rede ging von alter und neuer Zeit, beide mit gleicher Liebe umfassend. Märchenhaft verschwammen das Jüngsterlebte und das Längstvergangene, und die stille Wasserfläche, die, in unseren Plaudereien von Prince Henri und der schönen Gräfin La Roche-Aymon, noch eben dem Rheinsberger See geglichen hatte, über den es hinklang von Nixengekicher und Flötenspiel, dieselbe Wasserfläche, sie weitete sich jetzt zu einem buchtenreichen Haff, und der Hahn, der unten auf dem Boden des Großen Stechlin sitzt, er kam herauf und krähte, seinen roten Kamm schüttelnd, über den See hin. - Mitternacht war heran, die Scheite niedergebrannt; mitunter fiel noch ein Schein auf die Bilder. Sie lächelten.“

Kein Zweifel, der Wanderer ist schon ein guter Erzähler. Und wie der Erzähler, so wählt auch der Wanderer aus. Nicht jeder Ort in der Mark wird besucht. Das Unterwegssein allein kann schon Anregung genug bieten. Oder er beschreibt Zwischenstationen, zum Beispiel die „Passagierstube“ in Fürstenwalde. Über diesen Warteraum bei der personenbefördernden Post schreibt Fontane: „Passagierstuben sind ein selten trügender Barometer für die Stimmung, das ,Wetter‘, das geistige Leben, das in den verschiedenen Städten herrscht, und es hat eine Bedeutung, ob ,Schwerins Tod‘ oder ein altes Postreglement über dem Sopha hängt. Die Fürstenwalder Passagierstube zeigt noch auf ,schön Wetter‘. Die Bilder (lauter Porträts) ziehen sich an der Wand entlang wie eine Prinzenstraße, und neben dem Ofen hängt ein selten gewordenes Blatt: König Friedrich Wilhelm III., wie er hinter dem Vorhang seiner Theaterloge hervorlauscht, den halben Oberkörper noch hinter der roten Gardine versteckt.“

Hinter Fürstenwalde liegt das Dorf Kossenblatt. Als sich Fontane dem Dorf nähert, denkt er über die „Poesie des märkischen Sandes nach“, erklärt dem Leser die vielgenannte, zu oft verschrieene „Streusandbüchse“ einmal ganz ausführlich: „Die Landschaft ist trostlos, und die Dörfer sind arm. Überall mahlender Sand und Kiefernheide, dazwischen Brach- und Fruchtfelder, die letzteren so kümmerlich, daß man glaubt, die Halme zählen zu können. Auf Meilen hin eine reizlose Öde. Und doch hat der märkische Sand auch seinen Zauber. Ich werde des Wellenterrains zwischen Biesenthal und Prenden nicht leicht vergessen: in den Taleinschnitten ein Wassertümpel und Binsengestrüpp; auf der Höhe hüben und drüben eine Fichte, ein Kieferbusch; der Boden gelb, der Himmel grau und am Wege ein Stein, ein verwehter Tannenapfel; über dem allen aber nichts Lautes und Lebendiges als eine Krähe und die Schläge der Biesenthaler Turmuhr, die beide langsam über die Öde hinziehen. Wer solchem Bilde begegnet, der hat die Poesie des märkischen Sandes kennengelernt. - Aber auf dem Sandwege, den wir heute passieren, empfinden wir nichts davon, vielleicht weil die Öde nicht vollkommen ist und das Sandfeld vielfach den Anlauf nimmt, ein Fruchtfeld zu werden. Solche Anstrengungen haben immer etwas Tristes. Es sind dies die Gegenden der Mark, die ihr den Namen der „Streusandbüchse des heiligen römischen Reiches“ eingetragen haben, ein Name, der mutmaßlich nie entstanden wäre, wenn die Reisenden „aus dem Reich“ noch etwas anderes von der Mark kennengelernt hätten, als eben jenen breiten Sandgürtel, den sie auf ihrem Wege von Dresden nach Berlin notwendig passieren mußten.“

Dann ist Kossenblatt erreicht. Den Ort (Cossinbloth heißt Krummensumpf) nennt Fontane zwar „allerliebst“, auch verdiene er für sich ein eigenes Kapitel, das er aber nicht geschrieben hat. Abschweifungen und Entdeckungen. In Kossenblatt liegt alles „rechts von der Dorfstraße“: Herrenhaus, Kirche und Schloß. Hier erinnert Fontane an den malenden Soldatenkönig, der in der märkischen Einöde vor der Staffelei seine Gicht absaß. Damals waren noch die unter Schmerzen gemalten Bilder Friedrich Wilhelms in Kossenblatt zu sehen. Sie befinden sich heute in Potsdam. Zu den Bildern schreibt Fontane ironisch-distanzierend: „Das Mildeste, vielleicht auch das Zutreffendste, was man von ihnen sagen kann, ist: sie verleugnen die Stunde ihres Ursprungs nicht. Freilich haben auch sie ihre Verehrer gefunden, und wenn man so will, mit Recht. Einige unbedingte Friedrich-Wilhelms-Bewunderer haben die ganze Frage auf das Gebiet des Charakters, der Kraft, der Energie gespielt und von ihrem Standpunkt aus mit Recht gesprochen: ,So malte ein Mann, der nicht malen konnte; so malte er unter Schmerzen, und - jeden Tag ein Bild.‘ - Vor diesem Raisonnement verneigt sich die Kritik. Alle diese Bilder des Königs rühren aus den Jahren 1736, 1737 und 1738 her. Es sind sämtlich Porträts (Bruststücke), und zwar 41 an der Zahl, von denen sich 32 in den Zimmern, 9 aber im Korridor, alle in Rahmen von gebeiztem Eichenholz, befinden. So häßlich die Bilder sind und so unfähig, ein künstlerisches Wohlgefallen zu wecken, so wecken sie doch immerhin ein gewisses künstlerisches Interesse.“ Nachdem Fontane alle Zimmer des Schlosses durcheilt hat, alle groß, öde, weiß, mit hohen Fenstern und Kaminen, hält er noch ein charakteristisches Zeichen aller Zimmer fest. Ein Zeichen, das sein Grauen mehrte: „In jedem Zimmer lag ein toter Vogel, in manchen auch zwei. In Sturmnächten hatten sie Schutz gesucht in den Rauchfängen, und tiefer nach unten steigend, waren sie in das Zimmer wie in eine Vogelfalle hineingeraten.“ Dem aufmerksamen, anteilnehmenden, nachdenklichen Wanderer Fontane entgeht nichts. Und jeder Öde, draußen oder drinnen, lockt er noch regelmäßig einen poetischen Schimmer ab.

Schnell wechseln die Bilder. Reisende können von Kossenblatt kommend in Richtung Berlin in Pieskow am Scharmützelsee Halt machen. Es ist einer der schönsten Seen in der Mark. Immer den Blick auf Harmonien oder Zwiespältigkeiten gerichtet, entdeckt Fontane in Pieskow „auch ein preußisches Schulhaus in seiner eigentümlichen Mischung von Backsteinsauberkeit und Stiljammer“. Gern schaltet der Reisende aus Berlin auch die wörtliche Rede seines beliebten Kutschers Moll ein. In Pieskow, einen Stall für die Pferde suchend, vermeldet Moll auf Fontanes drängende Frage „Aber die Leute werden hier doch einen Stall haben?“: „Is schon richtig. Aber keinen Pferdestall. Alles, was sie haben, is ’ne Zieg un, wenn’s hoch kommt, ’ne Kuh. Und wer ein paar Pferde hat, na, der hat auch ein bißchen Acker und krügert nich und hat nicht Lust, zu dienern und zu katzenbuckeln und einem groben Knecht einen doppelten Bittern einzuschenken.“

Fast alles läßt sich aufklären. Indessen erklärt Fontane anschaulich die seltene Rundlings-Dorfanlage in Pieskow. Wer heute dorthin kommt, geht entweder baden oder pilgert zu den Grabsteinen der Schauspieler. Käthe Dorsch und Harry Liedtke liegen hier begraben.

Damals und heute: Schnurren, Anekdoten und behagliche Wildheiten. Gern mischte sich Fontane in einen vollgestopften Kremser, erlebte dichtgedrängt die Landpartien fideler Berliner aus allernächster Nähe mit. Diesmal sehen wir ihn südwestlich von Berlin unterwegs. Vorbei an Caputh, einst und für Fontane „das Chicago des Schwielow-Sees“, geht es in Richtung Werder. Hier plaudert Fontane in einem etwas historisierenden Ton. Werders Ruhm war einst der Fisch, dann das Obst. Unser Wanderer setzt hinzu: „Sein Ruhm, sein Glück begann erst mit jenem Tage, wo der erste Werderaner (ihm würden Bildsäulen zu errichten sein) mit seinem Kahne an Potsdam vorüber- und Berlin entgegenschwamm. Damit brach die Großzeit an. In Wirklichkeit ließ sie noch ein halbes Jahrhundert auf sich warten, in der Idee aber war sie geboren. Mit dem rapide wachsenden Berlin wuchs auch Werder und verdreifachte in fünfzig Jahren seine Einwohnerzahl, genau wie die Hauptstadt. Der Dampf kam hinzu, um den Triumph zu vervollständigen.“

Ausführlich referiert Fontane über das Obst in Werder. Erdbeeren, Kirschen, Johannisbeeren, Himbeeren. Großer Versand und enormer Konsum in Berlin. Von der Baumblüte keine Rede. Fontane blickt auf Bilanzen. Obst und Geld, Vitamine und Wohlstand. Eine Gelegenheit, auch über den Reichtum der Werderaner zu sprechen. Jedenfalls über einen allenthalben „soliden Durchschnittswohlstand“, dämpft der Wanderer durch die Mark schon wieder ab: „Aber man würde doch sehr irregehn, wenn man hier, in modernem Sinne, großes Vermögen, aufgespeicherte Schätze suchen wollte. Wer persönlich anfaßt und fleißig arbeitet, wird selten reich; reich wird der, der mit der Arbeit hundert anderer Handel treibt, sie als kluger Rechner sich zunutze macht. An solche Modernität ist hier nicht zu denken.“

Der heutige Wanderer wird solcher „Modernität“ wieder in der Mark begegnen. Auch auf architektonische Schrullitäten und gewöhnlichen touristischen Unfug wird er treffen. Doch kann er noch immer, wie zu Zeiten Fontanes, auch Wege nehmen, die einen guten Blick ermöglichen, den Kopf nicht drücken oder gar quetschen. Bevor unser Wanderer nach Werder kommt, zuvor also reichlich und ausführlichst über Werder aus der Entfernung, besteigt er an der Fährstelle zu Caputh (ein Ort, den Albert Einstein später sehr zu schätzen wußte) ein Boot und läßt sich über den Schwielow gleiten. Der See ist und bleibt ein Wunder, auch für Fontane. „Breit, behaglich, sonnig und hat die Gutmütigkeit aller breit angelegten Naturen“; er kann aber auch „heftig werden, plötzlich, beinahme unmotiviert, und dann ist er unberechenbar“. Doch hat Fontane einen guten Tag erwischt, es ist ruhig, der Blick geht über den See, an dessen Südspitze „das einsame Ferch“ liegt. Eine gute Gelegenheit für Fontane, etwas einzuflechten, das ihm bei solchen Ausfahrten regelmäßig in den Sinn kam: „Dieser einsame Punkt war mit unter den Lieblingsplätzen Friedrich Wilhelms IV., der in Sommertagen, wenn er abends zu Schiff in die Havelseen hinausfuhr, gern hier anlegte und seine Teestunde in engstem Kreise verplauderte. Noch zeigt eine umfriedete Stelle den Platz am Abhang, wo er zu sitzen und das schöne Bild zu überblicken liebte.“

Geht der Blick nicht nachdenklich übers Wasser, wird angeregt geplaudert. Über den Ziegelbetrieb in Glindow, Neuigkeiten von Maulbeerbäumen, über Seidenzucht und Weinbau, der in Preußen immer wieder versucht wurde, aber nie recht ertragreich war. Endlose Gespräche bei nicht versiegenden Themen. Dann erreicht das Boot Werder, für Fontane eine jener Oasen, die westlich von Potsdam grünen, dazu „das prächtige See- und Flußpanorama“. Bevor er zu den „Werderschen“ kommt, wird noch einmal viel Geschichte rekapituliert und auch reichlich aus den Büchern der Historiker zitiert. Dann hält er „Umschau“. Sprach Fontane zuerst übers Obst und das Geschäft damit, so zieht ihn nun das Bild des Obstes selbst in der Landschaft an: „Gärten und Obstbaumplantagen zu beiden Seiten; links bis zur Havel hinunter, rechts bis zu den Kuppen der Berge hinauf. Keine Spur von Unkraut; alles rein geharkt; der weiße Sand des Bodens liegt obenauf. Große Beete mit Erdbeeren und ganze Kirschbaumwälder breiten sich aus. Wo noch vor wenig Jahren der Wind über Thymian und Hauhechel strich, da hat der Spaten die schwache Rasennarbe umgewühlt, und in wohlgerichteten Reihen neigen die Bäume ihre fruchtbeladenen Zweige.“

Fontane hat auch einmal ausführlich geschildert, wie geplaudert wurde auf Boot oder Kutsche. Hauptsächlich, räumt er ein, hat das Wort bei solchen „Unterwegs-Gesprächen“ der Garnisonschullehrer Wagener aus Potsdam. Ihm verdankt Fontane nicht nur viele Detailkenntnisse, sondern auch den ursprünglichen Plauderton, der die meisten seiner Wanderungen bestimmt. Die Rede war schon von der Fahrt auf dem Schwielow-See nach Werder. Viel später folgt die Erinnerung an solch einen Tag, zusammen mit Wagener. „Mit einer wahren Herzensfreude denk ich an jene Sommernachmittage zurück, wo wir von den Dörfern und Ziegelöfen am Schwielow-See heimkehrend, auf einer vor ein paar ausgebauten Häusern von Alt Geltow liegenden Graswalze zu rasten und unser sehr verspätetes Vesperbrot aus freier Hand einzunehmen pflegten, ohne daß der Redestrom auch nur einen Augenblick gestockt hätte. Da vergaßen wir denn der Flüchtigkeit der Stunde, bis die Mondsichel über den kleinen Giebelhäusern stand und uns erinnerte, daß es höchste Zeit sei, wenn wir, oder doch wenigstens ich, den Zug noch erpassen wollten. Und immer rascher und geängstigter ging es vorwärts, jetzt über die Gewehrfabrik und jetzt über den öden und sommerstaubigen Exerzierplatz hin, und nun hörten wir das erste Läuten. Oh, wie das ins Ohr gellte, denn die vollgestopfte Brücke lag noch zwischen uns und unserem Ziel. Also Trab, Trab! Und ein ewiges und verzweifeltes „Pardon“ auf der Lippe, das uns freilich vor dem üblen Nachruf aller Karambolierten nicht schützen konnte, ging es endlich, zwischen den pickenden Sperlingen hin, entlang den Droschkenstand, entlang den Perron und nun hinauf die Treppe, bis ich keuchend und atemlos und mit eingebüßtem Taschentuch in das nächst offenstehende Coupé hineinstürzte. „Gute Nacht.“ Und fort rasselte der Zug. - Es war wie Dauerlauf und Turnerfahrt aus alten Schul- und Ferientagen her und gab einem auf Augenblicke das Gefühl einer ach auch damals schon auf lange hin zurückliegenden Jugend wieder. Und schon das war ein Glück.“

Nur einmal erwähnte Fontane die Freude beim „Einsammeln“ seiner Wander-Erlebnisse, ansonsten hofft er, der Leser möge es bei der Lektüre allemal selbst herausfinden, daß hier einer mit Begeisterung am Werke war.

Wer sich Fontane anvertraut, segelt bald schon über den Müggelsee in Richtung Teupitz. Hier, auf dem großen Müggel, soll sich mancher Reisende auf eine Weltumseglung vorbereitet haben. Es gibt fast immer einen Bezugspunkt, der in die Ferne führt, ganz zu schweigen von den Einflüssen, die von weither kommen.

Fontanes Programm ist ein steter Wechsel. Gesehenes, Gehörtes, Bedachtes. Beliebt sind bei unserem Wanderer, Leser seiner Romane wissen das längst zu schätzen, ironische Einsprengsel, Wendungen und Effekte mit „Mittelkurs“, auch „Eiertanz“ gilt ihm als beliebtes Späßchen. Es gibt in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg aber auch trockene, sogar langweilige Kapitel. Er rügt die Historiker wegen ihrer Trockenheit, dabei verebbt auch bei ihm schon mal der zumeist flüssige Plauderton. So schreibt er einmal sechzig lange Seiten hinweg über die lange Reihe der Militärs, über wechselnde Uniformen und das wechselnde Schlachtenglück der Neuruppiner Garnison. Oft aber befindet er sich in einer glücklichen Lage und es stürmen die „Schönheits- beziehungsweise Berühmtheitspunkte“ nur so auf ihn ein, daß er seiner Frau Emilie aus Steinhöfel bei Fürstenwalde schreibt: „Nur ein paar Worte. Es geht mir sehr gut; zwei Tage bin ich erst fort, und doch hab ich schon so viel gehört und gesehn, daß mir zumute ist, als hätt ich Euch vor 8 Tagen verlassen... was mir aber vorzugsweise den Eindruck gibt, als hätte ich schon wer weiß wieviel erlebt, das ist der Umstand, daß ich diesmal auf so viele vielsprechende Leute gestoßen bin. Um den Berolinismus zu gebrauchen: Man hat mir den Kopf verkeilt... heute nun ein gewisser Beeskower Krösus namens Ribbeck (auf der Fahrt von Beeskow bis Fürstenwalde - der Kerl erzählte drei volle Stunden, ohne auszuspucken) und nun endlich der Kammerdiener des Herrn v. Massow namens Lavas haben mir so viel erzählt, Kluges und Dummes, Interessantes und Langweiliges, daß mir der Kopf schwirrt. Ich schleppe an einem ganzen Sack voll Münzen und werde erst zu Hause die Goldpfennige von dem ganz gemeinen Dreier scheiden können.“

Das sind Ratschläge auch für heutige Leser und Wanderer. Wer in die Mark Brandenburg reisen will, und das wollen und können jetzt ungehindert viele, „der muß“, fordert Fontane, „zunächst Liebe zu Land und Leuten mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit“. Ferner muß der Reisende „mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn“ ausgerüstet sein. Komfort hingegen sollte man in der Mark nicht unbedingt erwarten: „Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet, aber es kommt vor, und keine Lokalkenntnis, keine Reiseerfahrung reichen aus, dich im voraus wissen zu lassen, wo es vorkommen wird und wo nicht. Wo es gut sein könnte, da triffst du es vielleicht schlecht, und wo du das Kümmerlichste erwartest, überraschen dich Luxus und Behaglichkeit.“ Fontane scheint die Schlemmerlokale des 20. Jahrhunderts, die nun auch in den versteckten Winkeln der Mark bewirten, vorausgeahnt zu haben, denn auch er empfahl dringlichst, mit dem größeren Beutel auf Wanderschaft zu gehen: „In vielbereisten Ländern kann man billig reisen, wenn man anspruchslos ist; in der Mark kannst du es nicht.“ Worauf es aber im Grunde ankommt, ist nicht eine Frage des Geldes. „Das Beste aber, dem du begegnen wirst, das werden die Menschen sein, vorausgesetzt, daß du dich darauf verstehst, das rechte Wort für den gemeinen Mann zu finden.“

Fontane war ein Meister des passenden Wortes und des richtigen Tons, im täglichen Umgang, in seiner Prosa sowieso. Der Mann des trefflich-freundlichen Wortes für jedermann genoß also auch Behaglichkeit, schätzte Geselligkeit. Beide schlossen beim schreibenden Wanderer „die Belebung des Lokalen, die Poetisierung des Geschehenen“ nie aus, sondern immer mit ein. Nicht alle Vorlieben können hier genannt werden. Zu Hause und auf Reisen ist aber von einer Vorliebe, die ihren Sitz im Gaumen hat, nicht abzusehen. Wer in den Spreewald fährt, betritt mit Fontane „das Vaterland der Gurken“, aber auch Kürbis, Meerrettich und Sellerie haben dort Gewicht und Geschmack. Fontane hatte für „halbe Portionen“ nichts übrig, seine Maxime lautet: „Ich habe eine hohe Vorstellung von der Heiligkeit der Mahlzeiten; gleich nach dem schlafenden kommt der essende Mensch.“ Und so stimmt er bei seiner Wanderung durch den Spreewald sogleich eines seiner Loblieder an: „Die Gelegenheit erscheint mir günstig, überhaupt die Bemerkung zu machen, daß unsere verschrieene Mark ein wahres Eldorado für Feinschmecker ist.“

Doch bevor es ans Essen geht, beobachtet Fontane die Spreewälderinnen ganz aufmerksam, Feministinnen unserer Tage sollten hier wegsehen: „Die Frauen, überall konservativer als die Männer (nur die kranken machen eine Ausnahme), sind auch hier sich selber treu geblieben und haben der Nivellierkunst unserer Zeit und großen Städten siegreich widerstanden. Sie haben noch ihr altes Spreewaldkostüm und halten es in Ehren.“

Dann besteigt der Wanderer einen Spreewaldkahn. Sofort fällt ihm eine Neuheit auf: „Burschen und Mädchen handhaben das Ruder mit gleichem Geschick. Sie sitzen nicht auf der Ruderbank oder schlagen taktmäßig ins Wasser, sondern nach Art der Gondoliere stehen sie aufrecht am Hinterteil des Bootes und treiben es vorwärts, nicht durch Schlag, sondern durch Stoß. Dies Aufrechtstehen, gepaart mit einer beständigen Anstrengung aller Kräfte, hat dem ganzen Volksstamm eine Haltung und Straffheit gegeben, die man bei unseren Dorfbewohnern nur allzuoft vermißt.“

Schließlich legte der Kahn im „Dorf-Venedig“ Lehde an: „Und nun das Mahl selber! Das wäre kein Spreewaldsmahl, wenn kein Hecht auf dem Tische stände, und das wäre kein Hecht, wenn ihn nicht die berühmte Spreewaldsauce begleitete, die mir wichtig genug erscheint, um hier das Rezept in seinen äußersten Umrissen folgen zu lassen. Das Geheimnis dieser Sauce (die im übrigen dem landesüblichen Kochbuch folgt) ruht in der kurzen Formel: wenig Butter, aber viel Sahne. Probatum est. - Der Spreewaldhecht hat eine Leber wie andere ehrliche Hechte, und alsbald beginnen wir mit einem: Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem Schleie, / Der Fisch will trinken, gebt ihm was, daß er vor Durst nicht schreie.“

Und in dieser Art, mit oder ohne Leberreim, konnte das Essen nach Feinschmeckergustos fortgehen. Fontane ist unterhaltsam, weiß zur richtigen Zeit die passende Münze in der Geselligkeit unterzubringen. Überall sieht er Dinge, die Traum oder Märchen, Sage oder einem Phantasieblitz angehören können. Am Stechlinsee war es der rote Hahn, im Forst Blumenthal die rätselhafte „Stadt im Wald“. Wirklichkeit und Traum scheinen auch im Spreewald zauberhaft ineinanderzufließen. Vom Kahn aus, während der Hecht verdaut wird, beobachtet er traumhaft vorbeifließendes Leben um ein Bauernhaus: „In der Tür saß eine ältliche Frau mit einem Säugling auf dem Arm, dicht am Ufer aber, den einen Fuß bereits im Kahn, stand eben jubelnd und plätschernd ihr Nachmittagsbad im Flusse nahmen. Es waren ihrer sieben, das älteste elf, das jüngste kaum vier Jahre alt. Wäre man allein des Weges gekommen und hätte eine Wolke das Haus hinweggenommen, dessen Lehmwände zu sehr an die Schwere irdischer Dinge erinnerten, so hätte man glauben können, ein Märchen an hellem, lichtem Tage zu erleben. Aus blondem Haar und Sonnenschein, aus Lachen und Kinderunschuld wob sich hier ein Bild, das auf uns alle den tiefsten Eindruck machte und uns auf Minuten sprachlos dastehen ließ, als starrten wir wirklich in eine feenhafte Welt. Und wir störten diese Welt nicht, das war ihr höchster Zauber. Ungeängstigt und von keiner Scham überkommen, die das Bekenntnis unsrer Sünde ist, spielten die Kinder weiter und tauchten unter und prusteten das Wasser in die Höh, wie junge Delphine, die am Ufer spielen. Das älteste Mädchen war wie eine Nixe, die Augen lachten, und das lange aufgelöste Haar schwamm wie Sonnenschein neben ihr her.“

Wer die Wanderungen durch die Mark Brandenburg liebt, liebt auch die Streifzüge in die Vergangenheit. Überall Fülle des Lebens: In den Kirchen und Amtsstuben, in Bildern und charakteristischen Eigentümlichkeiten der Landschaft. Aber zugleich wirkt und schimmert Vergangenes im Leben, im Alltag der Menschen, die der Wanderer bei seiner Tour antrifft. Die Wanderungen durch die Mark bieten immer eine Begegnung mit den Märkern.

Unabhängig von den vier Büchern der „Wanderungen“ beendete Fontane im Dezember 1888 den überaus amüsanten Aufsatz „Die Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelte“. „Die Märker“, meint Fontane, haben nicht ganz so viele Tugenden, „wie sie sich einbilden, was durchaus gesagt werden muß, da jeder Märker ziemlich ernsthaft glaubt, daß Gott in ihm und seinesgleichen etwas ganz Besonderes geschaffen habe“. Über ihre bisweilen erstaunliche Nüchternheit mokiert sich nicht nur Fontane, leider waren auch ihm die Leute in der Mark „ohne rechte Begeisterungsfähigkeit und vor allem ohne rechte Liebenswürdigkeit“. Einzelne allemal ausgenommen, denn das soeben Gehörte steht wiederum im Gegensatz zu manch euphorischer Rede des Wanderers unterwegs. Doch wenn es um Bilanzen, um Zusammenfassungen geht, wird der Berichterstatter selbst etwas nüchterner und setzt die auffälligen Unerfreulichkeiten wieder stärker ins Licht. Zeigte sich ihm etwa im Fehlen von „Stammesgenie“ bei den Märkern eine Seite der gedämpften Wildheit der Vorfahren? Der Blick auf das eingangs erwähnte Bild von Carl Blechen war ja der Blick auf kriegerische Vorfahren, die sich an den Ufern des Müggelsees lagerten. Fontane, der nicht nur die Mark Brandenburg, sondern ebenso Schottland, England, Dänemark, Italien und Frankreich (als Kriegsberichterstatter) bereist hatte, wußte, daß alle Stämme „gute Soldaten“ haben. Die „Legende von der grenzenlosen Tapferkeit“, mit der Historiker nicht zweckfrei liebäugelten, richtete Fontane wieder auf das Normalmaß: „Die Märker haben viel Pflichtgefühl und verstehen zu gehorchen und zu befehlen, und das ist besser als der ,Mut ohne Ende‘.“

Lob unter den Märkern verdienten jederzeit Eigenschaften wie Pflichtgefühl, Lerntrieb, Ordnungssinn, Sparsamkeit. Fontane: „Und das sind die Eigenschaften, wodurch sie’s zu was gebracht haben. Im übrigen“, räumt er humorvoll-kritisch ein, „sind sie neidisch, schabernackisch und engherzig und haben in hervorragender Weise den ridikülen Zug, alles, was sie besitzen oder leisten, für etwas ganz Ungeheures anzusehen.“

Fontane verurteilt nicht, er setzt aber alle erfahrbaren Eigentümlichkeiten seiner Landsleute ins rechte Licht, auch bindet er sie fein abwägend an die „wunderbare Beleuchtung“, in der er als Wanderer Sumpf, Sand, Heide und Wälder, Dörfer und Seen sah. So sind die „Wanderungen“ ein reiches, verzweigtes und verzwicktes Mosaik erzählter Geschichten aus der Mark. Nicht ohne Verklärung. Und weil Fontane Traditionen viel Bedeutung beimaß, anhaltend wirkende Kraft, die über die Zeiten fortdauerte, gilt auch der Geschichte des Adels seine Vorliebe, trotz gelegentlich auch harscher Kritik. Eine Zukunft freilich mochte er dem Adel nicht zubilligen, verbürgt ist aber vom Mai 1860 im Brief an die Mutter seine liebevoll-einnehmende Meinung: „Wer den Adel abschaffen wollte, schaffte den letzten Rest Poesie aus der Welt.“ Besonders kritische Leute mögen an diesem Punkt einwenden, hier stoße Fontane womöglich an die Grenzen seines Geschichts- und Poesieverständnisses.

Skeptischer sehen wir ihn im Alter, auch zunehmend verständnisloser gegen alles vertrackt den Lauf der Zeit behindernde Märkisch-Preußische. Auf der Insel Norderney, also fern von „Kiefer und Kaserne“, schreibt er im August 1882 an Frau Emilie ausführlich über seine Ansichten zum preußisch-märkischen „Durchschnitts“-Adel: „Sie sind eingebildet (man weiß nicht recht worauf), beschränkt und im ganzen genommen ruppig. Selbst von ihren speziellen militärischen Tugenden zu sprechen ist lächerlich; jeder gesunde Mensch, der in bestimmten soldatischen Anschauungen von Jugend auf trainiert wird, gibt auch schließlich einen guten Soldaten ab. So war es schon vor 2000 Jahren, und so ist es noch. Die Arnims sind die einzige Familie, die als Familie (ausgezeichnete Individuen kommen natürlich auch in den andern vor) eine Ausnahme machen. Die Schulenburgs, Alvenslebens, Knesebecks - die zu den guten gehören - sind schon keine richtigen Märker mehr, sie haben den Stempel der rein deutschen Niedersachsen, die das große Gebiet zwischen Elbe und Weser innehaben. Übrigens steht dies in durchaus keinem Widerspruch zu meinen 4 Bänden ,Wanderungen‘; ich habe überall liebevoll geschildert, aber nirgends glorifiziert, nicht einmal meinen Liebling Marwitz. Ich habe sagen wollen und habe wirklich gesagt: ,Kinder, so schlimm, wie ihr es macht, ist es nicht‘, und dazu war ich berechtigt; aber es ist Torheit, aus diesen Büchern herauslesen zu wollen: ich hätte eine Schwärmerei für Mark und Märker. So dumm war ich nicht.“

Man hat eben auch noch seine ganz privaten Meinungen, denn gedruckt wurde dies ja erst weit nach Fontanes Tod. Eines aber bleibt unverrückbar: Der Erfolg der „Wanderungen“ beim zeitgenössischen Leser beruhte offensichtlich auch darauf, daß jeder seins las, fand und aufzubauschen verstand. Dieses Echo gerade war es wohl, womit Fontane zu kämpfen hatte. Oder lag es daran, daß der Großteil seiner Leser Berliner waren?

Berlin als Wohn- und Ausgangsort des Wanderers spielt in den Wander-Büchern nur eine Nebenrolle. Doch kamen und kommen als „Benutzer“ dieser Bücher vor allem Berliner in Frage: Somit lohnt es sich, auch Fontanes Ansichten zu diesen kennenzulernen. Ihm war klar: Die Berliner sind längst keine Märker mehr. Der „richtige Berliner“ besteht aus einer vielstimmigen Mischung. Als eine formende Kraft hebt Fontane das Tabakskollegium Friedrich Wilhelms des Ersten hervor, das zur Schule der Schlagfertigkeit und der Geistesgegenwart wurde, „so daß die Geburtsstätte dieses Berlinertums eigentlich auch wieder in Potsdam zu suchen ist, in Potsdam, aus dem schließlich alles stammt oder doch das meiste“.

Vor dem leuchtenden Hintergrund der friderizianischen Zeit war Fontane die wilhelminische, also seine eigne, schwarz. Von den zu Spießbürgern umgemodelten Grenadieren ging vieles ins Berlinertum über. Dazu zählten auch (Fontane noch weit überdauernd) preußische Disziplin, Selbstgefühl, Auflehnung gegen die Obrigkeit und gedankliche Opposition, „die vor nichts und niemanden zurückschreckte“.

Heute heißt es bisweilen immer noch beschönigend Herz mit Schnauze, für Fontane „ein eigentümliches Etwas, drin sich Übermut und Selbstironie, Charakter und Schwankendheit, Spottsucht und Gutmütigkeit, vor allem aber Kritik und Sentimentalität die Hand reichten, jenes Etwas, das bereits weit über den unmittelbaren Stadtkreis hinaus seine Wirkung tut“.

Und was Sprache oder Stadtjargon (von Dialekt kann ja nicht gesprochen werden) betreffen, Fontane nimmt schon vorweg, was inzwischen längst um sich gegriffen hat: Die Märker berlinern. Hinter diesem eigenwilligen Mischton verbarg sich eine Mentalität, der Fontane mißtraute, die ihm heftig mißfiel. Einige besonders sarkastische, aber amüsant anschauliche Bemerkungen über den „Berliner Ton“ wurden erst nach seinem Tode veröffentlicht. Sie gehören mit zu dieser Landschaft, in deren Mitte Berlin liegt: „Es ist der unfeinste Ton, den die Welt kennt.“

Der märkische Berliner Fontane kannte alle Töne, wußte, welche Melodie gespielt wurde. Berlin war für ihn „nie eine Bürger-(Patrizier-)Republik. All das war es nur dem Namen nach. Bis in neuere Zeiten hinein war es ein mit Büros und Kasernen reich ausgestattetes Dorf großen Stils, und eines Tages, um ein Diktum Lord Byrons zu variieren, erwachte es und war eine Residenz geworden. Eine Residenz mit einem Hof, einem Reichstag und einem Heuschrecken-Proletariat. Bürger hatte es nie und hat es noch nicht. Unter dem beständigen Zufluten neuen Rohstoffes, den Behörden überliefert, immer bevormundet, und vor allem in seiner ungeheuren Mehrzahl bis in die ,hohen Stände‘ hinauf von einer nur an dieser Stelle vorkommenden Bettelarmut, haben sich die Tugenden der Politesse, der Teilnahme, der Menschenfreundlichkeit, des Wohltuns, nicht ausbilden können. In unglaublichem Grade tritt das Ich für sich ein, jeden als Feind ansehend, der auf den Moment wartet, wo ich ,austrete‘, um sofort in die Lücke einzuspringen. Alles ist Existenzfrage. Mit einer Art von infernaler Heiterkeit stößt einer den anderen von der Beresina-Brücke, um sich das nackte Leben und drüben am anderen Ufer eine ,Stellung‘ zu retten.“

Fontane spricht, und doch sind wir längst in der Gegenwart angekommen. Und spüren sofort, was es mit dem „Berliner Ton“ für eine weitreichende Bewandtnis hat. Aber Fontane rieb sich ja nie an etwas, um es in Fetzen gerissen zu entlassen. Ihn reizte es zugleich, an jeder Sache etwas zu ergründen, was man noch rechtfertigen konnte. Und so kritisiert er erst mal kräftig weiter drauf los, mäkelt an Märkern und an den märkischen Berlinern ganz besonders herum, denn, kein geringer Vorwurf: „Sie sprechen nur von sich ... Sie wissen alles, sie lassen niemand zu Worte kommen und unterbrechen jeden.“ Aber dann entdeckt Fontane doch etwas Erfreulicheres: „Sie sind sehr witzig und haben bis zu einem hohen Grade die Fähigkeit ausgebildet, die lächerlichen Seiten einer Sache herauszufühlen“; nun aber schon genug gelobt und deshalb dies noch hinterher, „aber eigentliches Urteil haben sie nicht. Über nichts. Weder über Menschen, noch Politik, noch Kirche. Am wenigsten über Kunst.“

Richtig übel nahm er es seinen Landsleuten, daß sie gegenüber Fremden so anmaßend rücksichtslos waren: „Mit der Ortseitelkeit hängt zusammen, daß auf den Fremden gar keine Rücksicht genommen wird. Überall in der Welt kommt man dem Fremden entgegen und macht seine Interessen zu den seinigen oder gibt sich wenigstens das Ansehen davon, man erkundigt sich nach Einrichtungen seiner Stadt, seines Landes, fragt nach seiner Kunst, nach seiner Beschäftigung. Man sucht sich zu belehren und vor allem den Fremden dadurch wohltätig zu berühren. - Das kennt der Berliner nicht. Er fordert sofort ein Eingehen auf seine Stadt und das Leben und die Interessen derselben.“

Dennoch: Auch für Fontane und seine Berliner bestand noch Hoffnung. Und er vergißt nicht hinzuzufügen, daß „allem diesem ein Reiz“ innewohne, „auch eine Berechtigung, ohne welche die ganze Erscheinung entweder nie entstanden wäre oder sich nicht gehalten hätte. Jeder wird die Wahrnehmung selber gemacht haben.“

Hoffnung besteht, solange Verstehen versucht und geübt wird. Doch ist auch an Änderung schon zu denken? Setzen wir ganz auf den Wanderer Fontane, und vielleicht hilft hier auch vor allem wandern. Manchmal, „nach einem schönen, an Bildern und Eindrücken reichen Reisetage“, überkam Fontane auch so etwas wie „Schweigelust“. Momente, in denen neue Ideen zu reifen begannen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins nehmen konnten. Es ergab sich bei solchen Gelegenheiten, daß er sogar vorausnahm, was Berliner und Märker noch immer beschäftigt. Anhänger und Ablehner der märkischberlinischen „Länder-Ehe“, hört, hört!: „Vor 400 Jahren und auch noch vor 200 Jahren war Berlin eine märkische Stadt und stand unter dem Einfluß märkischen Lebens, jetzt ist das Berlinertum eine selbständige, von dem ursprünglich Märkischen durchaus losgelöste Macht geworden, die nun ihrerseits auf dem Punkte steht, zu vielem andrem auch die, nur hie und da noch, Widerstand leistende Mark zu erobern und die Märker nolens volens früher oder später zu Berlinern zu machen.“


© Edition Luisenstadt, 1998
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