Eine Rezension von Gudrun Schmidt


Vom Wandel einer Straße

Berlin Karl-Marx-Allee
Hintergründe ihrer Entstehung/Probleme/Visionen.

Herausgegeben von der Architektenkammer Hessen/Manuel Cuadra, Rolf Toyka.

Junius Verlag, Hamburg 1997, 136 S.

 

Erste sozialistische Straße Berlins, Boulevard des Ostens, Prachtmeile der DDR, Magistrale im Zuckerbäckerstil, Kachel-Marx-Allee - an unterschiedlichen Namen für die 2,5 Kilometer lange Straße hat es nie gefehlt. Mal klang es volkstümlichderb, dann wieder pompös, offiziell. Namen und Begriffe, in denen sich zugleich die wechselvolle Geschichte dieser historischen Straße widerspiegelt. Heute bietet das einstige Vorzeigeobjekt trotz begonnener Verjüngungskur eher ein ramponiertes Bild. Und das weitere Schicksal ist ungewiß. Dem Denkmalschutz sei Dank, der die Allee, die der italienische Stararchitekt Aldo Rossi als „letzte große Avenue Europas“ rühmte, vor Abriß schützt. Doch damit sind die Probleme nicht aus der Welt. Wie ist diese Anlage als Baudenkmal zu erhalten und zugleich neu zu beleben? Darüber wird in der Öffentlichkeit diskutiert.

Die vorliegende Publikation Berlin Karl-Marx-Allee faßt die Ergebnisse einer Werkstattwoche zusammen, die von der Architektenkammer Hessen zusammen mit der Architektenkammer Berlin und dem Deutschen Architekturmuseum veranstaltet wurde. Was zunächst eine fachbezogene Debatte vermuten läßt, erweist sich als eine sehr informative, kenntnisreiche und differenzierte Betrachtung, die nicht nur für Leute vom Bau interessant ist. Die Herausgeber Manuel Cuadra und Rolf Toyka nennen ihr Buch über die Karl-Marx-Allee im Untertitel Hintergründe ihrer Entstehung/Probleme/Visionen. In diesem Sinne geht es nicht nur um eine Bestandsaufnahme, sondern in die Darstellung sind ebenso Überlegungen zur architektonischen, städtebaulichen und künstlerischen Gestaltung einer modernen Stadt einbezogen, die heutigen Anforderungen ihrer Bewohner gerecht wird. Die während der Werkstattwoche von internationalen Architekten und Designern entstandenen sechs Entwürfe zur Zukunft der Allee vermitteln dazu interessante Anregungen.

Vorurteilsfrei und differenziert wertet Manuel Cuadra in einer Einführung die Architektur der DDR als Zeugnis der Zeit, die als gesamtdeutsches Erbe zu akzeptieren und zu respektieren ist. Ausführlich wird in einem dokumentarischen Teil gewissermaßen aus erster Hand über die Entstehungsgeschichte berichtet. Der Architekt Egon Hartmann, dessen Entwurf im städtebaulichen Wettbewerb für die Stalinallee den ersten Preis erhielt, reflektiert über den Planungsverlauf und manche Querelen hinter den Kulissen. Nicht unproblematisch verlief zum Beispiel die kollektive Zusammenarbeit mit den anderen Preisträgern Richard Paulick, Hans Hopp, Karl Souradny und Kurt W. Leucht. Hartmanns Erinnerungen, auf die in der Vergangenheit oft Bezug genommen wurde, liegen in diesem Buch erstmals in schriftlicher Form vor. Von Hermann Henselmann, dem damaligen Chefarchitekten, ist ein Aufsatz aus dem Jahr 1952 veröffentlicht, in dem er sich mit Fragen des sozialistischen Realismus in der Architektur auseinandersetzt. Irene Henselmann, seine Witwe, schildert persönliche Erlebnisse, wie anno 1950 die damals Mächtigen Einfluß auf die Entstehung der Stalinallee nahmen. Beiträge von Werner Dutschke, ehemals Abteilungsleiter im VEB Hochbauprojektierung Berlin, und von Ehrhard Gißke, Stadtbaudirektor, befassen sich mit den Konzepten für den Wiederauf bau des Stadtzentrums in den sechziger Jahren.

Bereichert wird die Ausgabe durch zahlreiche Zeichnungen und Modelle. Die Fotografen Jürgen Hohmuth aus dem Ostteil und Gerhard Ullmann aus dem Westteil der Stadt bringen unterschiedliche Betrachtungsweisen ein. Während Hohmuth die Allee in ihrer Gesamtheit über die Architektur zu erfassen versucht, nähert sich Ullmann ihr über „Versteckte Botschaften“, mit Momentaufnahmen von Menschen.

„Wir bauen nicht nur Häuser. Was wir bauen, sind Gefühle.“ Diese Worte Hermann Hen- selmanns stellen die Herausgeber dem Buch voran. Eine Sentenz, die sich Architekten, Stadtplaner, Bauhistoriker, Denkmalschützer, Investoren (!) hinter den Computer stecken sollten.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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