Eine Rezension von Helmut Hirsch


Nicht nur die blaue Blume

Theodore Ziolkowski: Das Amt des Poeten
Die deutsche Romantik und ihre Institutionen.

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1996, 547 S.

 

Die Literatur der deutschen Romantik hat lange Zeit im Schatten der Weimarer Klassik gestanden. Bevorzugt wurde bis in die Neuzeit, also noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die blaue Blume hervorgeholt, wenn man Romantik meinte.

Ein verkleinertes, ein verklärtes, auch ein verharmlostes Bild der Romantik wurde so verbreitet, und es gab auch eine Zeit, da wurde noch ein bißchen von der Farbe Braun dem Blau der Blume, die mit Romantik nichts mehr zu tun hatte, beigemischt. Friedrich Schlegel, einer der vielseitigsten Köpfe romantischer Poesie, hat es auf den Nenner gebracht: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie.“ Und er setzte erklärend hinzu: „Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist.“ Das war ein Programm, dem der Klassik nicht unterlegen. Denn die romantische Kunst überhaupt sollte das Leben und die Welt insgesamt poetisieren. Solche Ansprüche müssen zweifellos Konsequenzen auf das Leben derer gehabt haben, die sie stellten.

Schon der Blick auf die Lebenslinien romantischer Dichter verrät, daß da kaum blaue Blumen auf den ersten Blick zu ernten sind. Sie waren Ingenieure, Kaufleute, Juristen, studierten, wie zum Beispiel Novalis (bei dem natürlich unter vielen anderen auch die blaue Blume blüht), Bergbau.

Theodore Ziolkowski, der deutsche und allgemeine Literaturwissenschaft an der Princeton University lehrt, hat ein Buch geschrieben, das die Romantik von einer ganz ungewohnten Seite ins Bild setzt. Keineswegs lebensfern, entstanden in jener Zeit intellektuelle und praktische Modelle, die das Zusammengehen, das Einverständnis von Natur, Gesellschaft und den Wissenschaften wunderbar miteinander verbanden. Ziolkowski hat die Gebiete Bergbau, Recht, Irrenhaus, Universität und Museum untersucht, die in der romantischen Literatur eine enorme Rolle spielten. Sei es in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Die Bergwerke zu Falun, in Ludwig Tiecks Märchennovelle Der Alte vom Berge oder in dem Roman Heinrich von Ofterdingen, hier spielt der Bergbau eine zentrale Rolle. Auf phantastisch-wundersame Weise wird der Leser dieser Texte in Welten gezogen, die die Polarität von Kunst und Leben, Wissenschaft und Phantasie zeigen, Gegensätze, die zueinander gehören. Aber: Produktive Gegensätzlichkeiten, ein Axiom der Romantik. Ziolkowski beginnt sein Buch mit der Prämisse, wonach in jeder Epoche bestimmte Institutionen existieren, die für die jeweilige Gesellschaft wichtig sind, „indem sie als Grundvoraussetzungen regulativ wirken und alle kulturellen Produkte durchziehen“.

Der Autor, fern von Europa, diesem aber geistig-romantisch verbunden, beschreibt auch einen wichtigen Unterschied zwischen angelsächsischen und europäischen Literaturhistorikern. Die einen machten eine scharfe Trennung zwischen Klassik und Romantik, während die anderen, weit weg überm großen Teich, sich nie auf solchen konstruierten Gegensatz einließen. Die Folgen beidseits des Atlantik sind groß gewesen. Von vielen Generationen selbst von Literaten sind sie nie ganz verdaut worden. Daß Klassik-Romantik-Gegensätze in Amerika anders, zutreffender gehandhabt wurden, machte solche spezifischen Untersuchungen wie die von Ziolkowski möglich. Mit Selbstverständlichkeit versteht er es zum Beispiel, das Bergwerk und das „Bild der Seele“ in Einklang zu bringen. Er vergleicht die Fahrten ins Innere der Erde mit den Streifzügen einer lebendigen, suchenden, forschenden Seele, die Eigenes und Fremdes zu erobern und zu vereinen sucht. Auch das Irrenhaus als Institution wird von Ziolkowski nicht abseits oder verirrend abwegig gesehen, sondern, der Blick auf die Literatur bestätigt es oft genug, als „Asyl der Phantasie“. Er erinnert an die wunderbaren „Nachtwachen des Bonaventura“ und gibt viele Beispiele für den „Wahnsinn“ und seine Erforschung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Wer über den Zusammenhang von Kunst und Wahnsinn Aufklärung verlangt, sollte die Romantiker lesen, und ihm wird hierzu auch ein Blick in Ziolkowskis materialreiche, kenntnisreich vorgetragene Studie empfohlen. Erfreulich und erfrischend an seiner Darstellung ist der aufklärend mitgehende Duktus; nie geht es ihm darum, kurzschlüssig etwas zu behaupten, sondern an Ort und Stelle zu zeigen. Das umfangreichste Kapitel seines Buches ist der Universität während der Zeit der Romantik gewidmet. Es wurde „Modell des Geistes“ überschrieben. Jena, Heidelberg und Berlin waren Hochburgen für Philosophie und romantische Poesie. Was eine kritische Universität zu leisten vermag, in dieser „Blütezeit“ (Ricard Huch) wurde es eindringlich praktiziert. Und immer wieder der Zusammenklang von Wissenschaft und Poesie, Wirklichkeit und Phantasie. Licht und Schatten, alle Seiten der Phänomene kommen hier gebührend zur Sprache.

Auch neueren Versuchen durch Schriftsteller, sich den Problemen der Romantik, ihren Zerreißproben und ihren Leistungen durch Zeitkritik anzunähern, widmet Ziolkowski Aufmerksamkeit. Freilich ist dies nur ein Appendix zum Thema. Und somit werden beispielsweise Christa Wolfs Versuche mit der Caroline von Günderrode und Heinrich von Kleist in Kein Ort. Nirgends etwas kurz dargestellt. Auch fehlt der Hinweis auf Franz Fühmann, der das Bergwerk zu einem wichtigen Thema seiner späten Arbeiten werden ließ.

Bei Fühmann tauchte der Gedanke der Romantiker zuerst wieder auf, wonach der Kopf der Menschen, das Gehirn darin schon dem Bild des Bergwerks ähnelt. Gedankenarbeit verstand er wie das Einfahren in einen Schacht, um die verschollenen Erlebnisse oder die ruhenden Phantasien zu fördern. Hier gibt es noch reichlich Arbeit, auch für die Literaturwissenschaft.

Indessen, dieses Buch leistet viel. Es benennt fünf Bereiche, die als Institutionen nicht nur Auswirkungen auf die Literatur hatten, sondern zugleich ihrerseits von der Romantik als kultureller und intellektueller Bewegung entscheidend geprägt wurden.

Der Autor verdeutlicht an vielen exemplarischen Beispielen aus allen Bereichen, daß es auch einen inneren Zusammenhang zwischen diesen in der Realität gab. Theodore Ziolkowski faßt zusammen: „Diese fünf Institutionen existierten im Zeitraum zwischen Französischer Revolution und nachnapoleonischer Restauration nicht isoliert und unabhängig voneinander, sondern waren eng miteinander verbunden. Sowohl die Menschen, die mit ihnen zu tun hatten, wie die Sphären, die sie verkörperten, standen in Beziehung zueinander. Es fällt auf, wie viele Namen bei einem Gesamtüberblick über die hier erörterten Institutionen immer wieder auftauchen.“

Brentano, der Rechtswissenschaft in Bonn studierte, Adolph Müller, der in Halle Medizin studierte und zu Studienzwecken in Celle das dortige Irrenhaus besuchte. Kleist wiederum sehen wir im Louvre, und er beschreibt eindrucksvoll die Bilder des Malers Caspar David Friedrich in Berlin. Schließlich: E.T.A. Hoffmann war auch ausgebildeter Jurist und praktizierender Richter. Natürlich auch Dichter und Rotweintrinker. Fülle der Welt, Reichtum der Ideen, Vielfalt der Tätigkeiten, also von blauer Blume auf den ersten Blick nichts zu sehen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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