Eine Rezension von Heinrich Buchholzer


Mit Phantasie und Geduld

Thor Vilhjahnsson: Graumoos

Aus dem Isländischen von Marita Bergsson und Günther Wigand.

Ullstein Buchverlage, Berlin 1998, 301 S.

 

Sein dreiundzwanzigstes Buch hat dem Autor 1988 den Literaturpreis des Nordischen Rates eingetragen, des gemeinsamen beratenden Organs der fünf nordeuropäischen Länder. In Island ist es zuvor schon zum Bestseller geworden, was bei rund 240 000 Einwohnern immerhin eine Auflage von ca. zehntausend Exemplaren gebracht hat. Inzwischen ist Graumoos in ein halbes Dutzend europäische Sprachen übersetzt worden.

Im ebenso kurzen wie kenntnisreichen Nachwort zu diesem Taschenbuch verweist Gert Kreutzer auf die inspirierende Nähe Vilhjahnssons (Jahrgang 1925) zu Haldor Laxness (Jahrgang 1902, Nobelpreis für Literatur 1955) und seine unbestrittene Stellung als Wegbereiter des Modernismus in der isländischen Prosa. Er fügt hinzu, daß gerade seine bedeutendsten Bücher „nicht ganz ohne Grund“ als schwer zugänglich gelten. Dies trifft auch auf den vorliegenden Band zu, doch in eingeschränktem Sinne: Nur demjenigen Leser wird der Zugang und das sich damit einstellende Lesevergnügen verwehrt bleiben, der ohne Geduld und Phantasie an die Lektüre geht.

Phantasie braucht man, um sich die Bilder der Menschen und der isländischen Landschaft zu erschließen. Sie spielt in diesem Roman eine tragende, alles andere überragende Rolle, noch vor den Menschen, die als Teil, letztlich unbedeutendes Anhängsel der rauhen, überaus kargen Natur erscheinen. Sie sind skizzierte Wesen, gewinnen nur in ihren Liebesbeziehungen eindringlich Gestalt durch Bewegung, wenige Sätze, gemutmaßte Gedanken und Gefühle. Thor läßt eher das Detail sprechen, statt den Menschen eingehend zu beschreiben, gar seine Persönlichkeit auszubreiten. Kraftvolle Andeutungen sind die Kunst des Autors, die Phantasie fordernd und beflügelnd. So beschreibt er einen Bauern, bei dem die Hauptfigur des Buches, ein Richter, als Reisender zu Gast ist:

„Asmundur, der kommissarische Bezirksrichter, betrachtete die großen Hände, die auf den Knien ruhten, die abgebrochenen Nägel wie Hornscheiben ohne jeden Glanz, die Finger kurz und breit, mit eingewachsener Erde in den Falten; eine klobige Hand, dicke Adern auf dem Rücken; die Haut rauh und gesprungen, und die Knöchel bläulich, glänzend.“ Und dann doch ein Stück mehr von der Person. „Was er sah, war ein rundes Gesicht; ein großer Abstand zwischen den tiefliegenden Augen; die Nase breit und eher flach, die Nasenlöcher aufwärts gerichtet; weiße Bartstoppeln, und einer der Mundwinkel hing schlaff herab, während der andere sich immer wieder öffnete, als würde ein Reißzahn gebleckt.“

Diese große Kunst des Beschreibens steigert sich eher noch, wenn Thor die Natur, die Landschaft gleichsam zu Wort kommen läßt. „Die flachen Klippen wurden rasch dunkel. Überall dieses graue Gestein, das sich aus dem Land aufballt, aus der Vegetation entfaltet, mancherorts mit scharfen Kanten, die sich durch die grüne Decke schneiden, um einen Felsbrocken oder Steinkoloß ans Licht zu heben.“

Geduld muß man haben, um sich in die bruchstückhaft und wie zufällig zusammengesetzte Geschichte hineinzulesen, bis sie sich ganz erkennen läßt. Je länger man sie geduldig verfolgt, desto mehr nimmt sie gefangen, gewinnt sie Konturen als ein Rahmen, in dem Island erscheint, ein Stück seines Lebens, ein Stück menschlichen Leids und Leidens, auch der Geschichte, der Sagenwelt, vor allem der sozialen Lage der Bauern.

So handelt es sich nur scheinbar um eine Kriminalgeschichte, die Tötung eines Neugeborenen, das im Inzest gezeugt wurde, von Halbgeschwistern, Magd und Knecht bei einem Bauern. Die junge Mutter, die ihren Bruder zur Liebe herausgefordert hatte, vergiftet sich, nachdem sie das Kind in einer Grube geboren und dort liegen gelassen hat, ein Vorgang, der mangels Zeugen nicht rekonstruiert werden kann. Der unreife junge Knecht, an der Tat durch Vergraben der Kindsleiche beteiligt (wenn denn seitens der Mutter von schuldhafter Tat überhaupt die Rede sein kann), wird vom eigens angereisten Richter zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Damit ist offiziell Gerechtigkeit geschehen. Der zum Tod des Kindes - genauer: eines Kindes in der Geburt - führende Vorgang aber ist ungenügend aufgeklärt, das Urteil nach mitteleuropäischem Rechtsverständnis fragwürdig. Die Dorfbewohner akzeptieren es, zumal auch der Inzest damit bestraft wird, der Richter ist Autorität, allerdings durch seinen ersten großen Fall arg gefordert. Man ahnt eine Botschaft: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Und man liest, was wohl für jeden gelten soll: „Nur der Mensch kann vor Leid zerspringen; freilich selten.“

Die Handlung, die Menschen, die Tiere, die ganze Natur werden Bestandteil eines in Grautönen gehaltenen Bildes von Island. Es ist eine Saga aus diesem Jahrhundert. Die große Leistung der Übersetzer läßt sich ahnen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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