Eine Rezension von Helmut Hirsch


Mit Kopf und ohne Kopf

Péter Nádas: Liebe

Eine Erzählung. Aus dem Ungarischen von Christiane Viragh.

Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin 1996, 128 S.

 

Der ungarische Erzähler und Essayist Péter Nádas machte mit seinem 1991 bei Rowohlt in deutscher Übersetzung erschienenen Roman Buch der Erinnerung Furore. Das Wort vom „Epochenroman“ machte die Runde, ein Werk, das in Umfang und Anspruch mit Uwe Johnsons Jahrestagen und der Blechtrommel von Günter Grass gleichgesetzt wurde.

Kleine Lebens- und große Weltgeschichte wurden in diesem Opus miteinander verbunden, grüblerisch hinterfragt und einem melancholischen Gestus anvertraut. Die Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen Liebenden, zwischen Mann und Frau interessieren den Ungar (Jahrgang 1942) sehr. Dem Buch der Erinnerung folgten kurze Zeit später zwei Bücher ähnlichen Inhalts. Von der himmlischen und irdischen Liebe (1994), eine vielstimmige philosophische Untersuchung schon ein Jahr später: Der Lebensläufer. Ein Jahrbuch. Hier deutete sich an, was Nádas bedrängte, womit er aber seine Schwierigkeiten bekam. Im Lebensläufer, den Erfolg vom Buch der Erinnerung wieder aufnehmend, spielte er variationsreich noch einmal durch, was er schon kunstvoller zuvor getan hatte. Kommentare, Notizen und Entwürfe, ein Buch wie eine Loseblattsammlung, das war der Lebensläufer. Mit seiner Erzählung Liebe, der Titel ist lapidar und vielsagend zugleich, greift er wieder sein Generalthema auf. Péter Nádas ist als Erzähler ein Grübler, ein berechnender Melancholiker. Er hängt dem Unmöglichen an, erzählt das Mißlungene. Liebe ist es nicht mehr. Ein Mann ist zu seiner Geliebten gekommen, um ihr zu sagen, daß es aus ist zwischen ihnen. Aber er weiß es genau, er wird es nicht schaffen, dies auch zu sagen. Er zögert, bohrt sich in den Abgrund seiner nervösgaloppierenden Gedanken, die verflossene Geliebte immer vor sich, doch Liebe längst hinter sich. Es ist, als beginne die Auflösung als Ohnmacht des Mannes vom Kopf her. Was aber einem surrealistischen Erzähler Stoff zu phantastischen Verwandlungen gegeben hätte, wird bei Péter Nádas zu einem versponnen ausgeschmückten, dumpfen und manierierten Fall ins Nichts. Sein Thema ist die Nicht-Liebe, das Nicht-zueinander-Finden, schlimmer noch: Der Gedanke an Liebe flieht jede Handlung, stellt sich während des Zusammenseins ein anderes, illusionäres Beisammensein vor. Auch die Sprache zeigt, immer knapper, lückenhafter werdend, das Fehlen von Leben und Liebe, den Mangel von Sinn und das Versiegen der Sinnlichkeit. Bei Friedrich Nietzsche gab es noch das „Glück des Vergessens“, bei Nádas das Unglück des Verschwindens aller Liebe, aller Bindungen und Werte. Ein Sturz ins leere Ich wird erzählt. Tief und unendlich, grau und dem Wahnsinn sich nähernd. Es ist hier so, daß auch das personifizierte Ich im Text verkommt: „Kann aber nicht entscheiden, ob ich das wirklich sehe oder es mir nur einbilde. Kann ebensowenig entscheiden, ob wir uns geliebt haben oder ob nur meine Knie mit ihrem Schambein das Liebemachen imitiert hat, oder ob ich mir auch das nur einbilde.“

Der Gang ins lieblose Nichts ist auflösend, nichtig, sonst nichts: „Auch das weiß ich schon, warum muß ich immer wieder dasselbe wissen? Also ist der Wahn nichts anderes als ein ständiges Uneinssein mit der Zeit. Uneinssein mit der Gewißheit und dem Ungewissen. Auch das weiß ich. Habe ich schon gewußt. Warum muß ich es immer wieder wissen, warum komme ich nicht vorwärts?“ Fragen, die eigentlich keine mehr sind. Dafür Sand im Getriebe der Erzählung. Sand, der den Rest dessen vertreibt, was eigentlich für eine gute Erzählung gebraucht wird: Erlebnisse. Ein bißchen Erinnerung und nicht unbedingt deren rhythmisierte Auslöschung, absinkende Bilder, rumorende schwarze Phantasien, die auch das Zerstückelte noch zerfetzen. Die männliche Erzählfigur von Péter Nádas erinnert an einen Menschen, der das Leben umgehen will. Das ist immer gefährlich, zuerst für den, der nicht anders kann, zudem für den nächsten, zuletzt für den Leser, der diesen Fall nicht mit Anteilnahme, eher aber mit Bedauern zur Kenntnis nimmt. Da hilft auch nicht, wenn mal über Musik ein Gemeinplatz eingeführt wird. So etwa: „Jeder Ton der Musik ordnet sich aus der Stille, gibt sich aber der Stille nicht zurück, kämpft dagegen, setzt sich in einem nächsten Element fort, damit ich nicht merke, daß er, der gewesene, schon erlöschen muß; der, der gewesen ist, leugnet in der eigenen Fortsetzung seine Endlichkeit und gesteht sie so ein...“

Bilder lösen sich auf, Situationen verlieren ihren Sinn. Das alles ist mühevoll erarbeitet, erzählt ist es sogar äußerst konsequent, aber es ist mystisch, auch sprachlich hängend und ungenau, weil der Spielraum und Wirklichkeitstraum des Erzählers aufgelöst wird. Die Geliebte, die keine mehr sein soll, immer aber im sich verdüsternden Blick des Mannes bleibt, erscheint nur noch als eine fragmentarische Figur: „Als wäre es nur ein Rücken, ohne Kopf.“

Daß Péter Nádas mit seiner Geschichte einen konsequent erzählten Beitrag zur Unmöglichkeit der Liebe leistet, ist erstaunlich. Daß er es gründlich betreibt, auch auf die Gefahr hin, verschraubt und verschroben zu schreiben, ist Teil seines Kalküls, denn: „Es gibt ein Tiefer als tief, tiefer geht es nicht.“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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