Eine Rezension von Friedrich Schimmel
Jürgen Manthey: Die Unsterblichkeit Achills
Vom Ursprung des Erzählens.
Carl Hanser Verlag, München 1997, 470 S.
Der an der Universität Essen lehrende Jürgen Manthey, er war zuvor auch als Rundfunkredakteur, Verlagslektor und Literaturkritiker tätig, ist ein belesener Mann. Er lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft und gab Proben seines Könnens schon mit dem Buch Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Philosophie und Literatur.
Leser von Dramen, Romanen, Erzählungen und Gedichten scheren sich wenig darum, was zum Beispiel die Vergleichende Literaturwissenschaft mit den Texten treibt. Insofern ist es durchaus selten, daß ein Leser dennoch einmal Einblick in diese Sparte der Deutungsfreude bekommt. In diesem Buch geht es vor allem um Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins, die schon Friedrich Nietzsche beschäftigten. Im Zentrum stehen Vatertötung und Muttermord. Der Leser, der das dem umfangreichen Buch vorangestellte Inhaltsverzeichnis betrachtet, wird aufhorchen. Vatertötung und Muttermord? In Verbindung mit Goethes Wilhelm-Meister-Romanen, mit Musils Mann ohne Eigenschaften, auch mit Kafka, Thomas Mann und Rilke? Ja, das ist hier möglich, weil von der ersten bis zur letzten Seite mit den Mitteln und Methoden der Psychoanalyse der Blick auf Literatur gerichtet ist.
Die Unsterblichkeit Achills führt zunächst weit zurück, zu den Hochkulturen der Antike, zur griechischen Mythologie, hier zu Homers Ilias und Odyssee. Zur Erinnerung: Achill, der Städtezerstörer in Homers Ilias, brodelt vor Groll und wird der blindwütige Zerstörer Trojas. Seine Mutter Thetis unterstützt ihn, indem sie die obersten Götter um Unterstützung anruft.
Jürgen Manthey eröffnet sein Buch mit dem Ratschlag der Mutter Thetis an den Sohn Achill: Aber du bleibe jetzt sitzen bei den schnellfahrenden Schiffen / Und zürne weiter den Achaiern und halte dich ganz vom Kampfe fern; daraus zieht Manthey diesen Schluß: Beachten wir dabei: Es ist die Mutter, die den Sohn darin bestärkt, weiter zu zürnen, und sie ist es, die ihm nahelegt, ja, ihn anweist, dem Kampf fortan ,ganz fernzubleiben. Was für eine Symbiose, was für eine Einheit.
Das sei gerade der Wunschtraum des Sohnes, eines Sohnes, wie der Autor in psychoanalytischer Sicht betont. Und weiter Manthey: Müssen wir ausführen, welchem frühkindlichen Stadium, welcher archaischen Stufe der psychischen Entwicklung diese Einheitsvorstellung entspricht? Der Leser erlebt die Geburt einer Fixidee direkt aus dem homerischen Epos heraus. Hier liege schon ein Urteil über den Helden des Epos und - das heimliche Motiv des Autors, es zu schreiben; gerade weil es so kühn und heimlich zugleich sei, finde sich hier für Manthey die Stiftungsurkunde der europäischen Literatur. Achill, der Städtezerstörer und Frauenräuber, sieht sich zwischen Mutter und Vater, sozusagen in der ödipalen Krise, die Loslösung von der Mutter beherrscht ihn in allem, was er tut. Daß Manthey hier zugleich den Ursprung des Erzählens ansetzen möchte, bleibt im ganzen Buch ein uneingelöstes Versprechen, mitnichten kommt er darauf auch nur einmal in ernster Absicht zurück. Statt dessen stürzt er sich in die Analyse der Texte, wittert überall nach Mutterund-Sohn-Konstellationen, nach den Bildern und Metaphern, die die katastrophenreiche Ablösung des Sohns von der Mutter beweisen sollen. Das ist mit einem erstaunlich kundigen Fleiß versehen, allerdings entsteht bald schon der Eindruck, daß sich der Leser hier inmitten eines Oberseminars befindet. Gesucht wird überall ein achilleisches Paradigma, und gefunden wird ein intellektueller Ableger, ein Konglomerat der Vergleichenden Literaturwissenschaft, das die kulturelle Mutter genannt wird. Mit diesem Blick, der die jeweilige Ursituation zwischen Mutter und Sohn zu entdecken sucht, beginnt jedes Kapitel. Das ist die Basis der Fixidee, die Ablösung vom Elternhaus, der Abtrennungs- und Abnabelungsprozeß von der Mutter. Da das nie reibungslos zugeht, läßt sich, in der Wirklichkeit ist es ja auch selten anders, genügend Konfliktstoff für diese These in der Literatur finden. Katastrophen sind es, die diese Ablösungsprozesse begleiten. Was folgt daraus? Der kreative Mutterersatz, über den Freud ausführlich geschrieben hat, und der leider immer wieder bis zum Überdruß ausgequetscht wird.
So stellen sich für Manthey die Frauen in den Dichtungen und auch die Frauen, Geliebten der Dichter stets als Mutterersatz dar. Manchmal gelingt es einem Sohn auch, sich reibungslos von der Mutter zu lösen. In der Ilias und in der Odyssee finden sich auch Gegenbeispiele. Da wird auch Telemach erwähnt, dem es gelang, konfliktarm der Mutter zu entgehen.
Der Omnipotenz Achills wird die poetische Potenz der Dichter gegenübergestellt. Ein Muster, mit dem kräftig gearbeitet wird, weil es, einmal in Gang gekommen, wie eine Wort- und Gedankenlawine fortrollt. Boccaccio beginnt die hundert Erzählungen seines Decamerone mit der Geschichte eines Mannes, der vorführt, was er mit der Sprache alles zu machen imstande ist. Aus phantasiesüchtiger Poetik läßt sich vieles ableiten, auch dieser Kommentar des Autors Manthey: Ist das nicht der heimliche Wunschtraum jedes Schriftstellers, über den Tod hinaus von einem ständig wachsenden Publikum verehrt zu werden und darin alle anderen Autoren auszustechen, der einzige, der Größte, zu sein? Wird hier also nicht wieder einmal die Sache eines Achill zu seiner Unsterblichkeit verhandelt?
Wer süchtig nach Belegen ist, stellt gern rhetorische Fragen, sucht die schnelle Übereinkunft entweder mit dem Seminaristen oder mit dem Leser. Es bleibt dem Leser überlassen, Distanz zu wahren. Auch Irrtümer oder weitschweifende Fixideen können ja anregend und unterhaltsam sein. Man kann dem Autor bei seinem Galopp durch die Literaturgeschichte folgen. Wenn er das fünfzehnte Kapitel seines Buches, in dem es um Robert Musil gehen wird, mit solchen Worten eröffnet, darf ironisch geschmunzelt werden: Wenn wir hier angetreten sind, einen wichtigen Teil der epischen Literatur seit Homer mit Hilfe der Formel ,Achill gegen Troja aufzuschließen und zu verstehen, so müssen wir nach allem Bisherigen bereits feststellen, daß Achill dabei nirgends zu kurz kommt.
In der Tat, selbst wo nie Achill genannt oder auch nur erahnt wird, bei Manthey ist er da, entsteht wie ein heimlich lauernder Geist im Urgrund des Textes. Mehr noch, die Dichter scheinen sich das alles nur ausgedacht zu haben, damit Achill, der Unendliche, hier aufblitzen kann. Bei Schilderung einer Szene aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, es geht um eine Kindheitserinnerung des Helden, wird spekuliert, als lese sich die Szene geradezu wie ein Wort in unserer eigenen Sache hier, und, wenn das keine Hochstapelei ist: Die ganze Passage ist darüber hinaus wie ein auf Bestellung gelieferter Beitrag zur Veranschaulichung unseres achilleischen Paradigmas.
Achill und die Folgen, das ist hier das Thema. In psychoanalytischer Sicht, der Frage nachgehend, was aus den Aggressionen der Säulinge werden kann, Omnipotenz oder Trauer oder Kreativität. Daß auch der Interpret, von Fall zu Fall eilend, sich selbst komischapart darzu stellen vermag, gehört zu den unfreiwillig heiteren Höhepunkten in diesem Buch. Bei Goethe werden mehrfach Belege für das Paradigma, dem wir hier dauernd auf der Spur sind, gefunden. Wilhelm Meister reflektiert gerade wieder über das Rettende der Kunst, da tönt es aus dem Rohr des Kommentators: Das Kunstobjekt als Zwischenobjekt, die Kluft zu überbrücken zwischen dem Verlangen und dem unerreichbaren ursprünglichen Objekt! - Das ist das Einmalige an der Literatur: Ihre Urheber sind im Labor ihrer lebendigen Autorschaft Meerschweinchen und Forscher in einer Person. Unsereiner kann die Eigenversuchsergebnisse nur ergriffen oder staunend abschreiben.
Jürgen Manthey schreibt und schreibt, er zitiert und kommentiert auch nicht bloß, er stellt zudem so seltsame Talk-Show-Fragen wie diese: Die Wilhelm-Meister-Romane, eine Hommage an Frau von Stein, die Triebveredlerin und Sublimations-Lehrmeisterin?
Dies ist, es wurde schon gesagt, auch ein Buch zur Unterhaltung. Oft genug, und das ist ja ein untrügliches Zeichen der Unterhaltungsliteratur, weiß der Autor nicht weiter, läuft aber unbeirrbar auf seinem Weg fort, stellt naiv klingende Fragen in der Art Wie erklären wir uns, daß ...?
Einmal landet er auch bei Brecht. Für Manthey, es ist nicht zu überlesen, ein rotes Tuch. Dieser Mann ist für ihn also typisch gespalten (wenn man wüßte, was das ist). Zunächst reduziert er Brecht bei Gelegenheit der Baal-Analyse auf dieses Bild: Er ißt und trinkt, später ist Baal Brechts Werther (!!!), und wie Goethe läßt er seinen Helden sterben, um selbst als Autor ewig zu leben. Geht es um das Stück Die Mutter, ist Manthey ganz in seinem Element: Man glaubt es kaum, wie ungebrochen, wie unkaschiert eine kindliche Not in diesen Texten ihre Belange vertritt. Es geht ständig um die verlorene Einheit zwischen Mutter und Kind. Brecht ist psychisch offenbar nie selbständig geworden, er blieb immer die aus dieser Einheit vertriebene Hälfte.
Manthey weiß auch genau, woher beispielsweise die Umwertung der Dinge einmal um ihre Achse bei Brecht kommt. Es ist die Fixierung an eine kindliche Gefühlswelt.
Und weil Brecht gern Figuren aus asiatischen Regionen in seine Texte einbezog, ist klar: Das Anziehendste für Brecht dabei ist die Maske, hinter der das Lebendige, Emotionale, verschwindet. Es verbirgt den inneren Kampf des Gefühlsanarchisten, der Brecht ja war, mit der Disziplin. Von der Lyrik Brechts abgesehen, stellt Manthey kategorisch fest, daß es kaum eine Zeile im Werk dieses Autors gibt, die nicht Karikatur, Blasphemie, Überzeichnung wäre.
Alles Mittel, die in der Literatur legitim sind, man muß als Leser und Deuter nur Verständnis, Gespür dafür haben. Diesem Deuter aber ist Brecht ein Mann der Unterwelt, ein Ort, an dem sich Brecht mit seiner Phantasie zu Hause fühlt, und man wird nicht übersehen können, daß es sich dabei um kriminelle Phantasie handelt. Wahrlich ein schlechter Witz, eigentlich aber ein Armutszeugnis für einen Mann, der hauptberuflich Vergleichende Literaturwissenschaft betreibt.
Die Unsterblichkeit Achills ist eine Sammlung von Texten, die allesamt, ob sie nun Homer, Kafka, Goethe, Musil, Rilke oder Kästner im Auge haben, ein Probierfeld für Zerstückelungsphantasien, für Unberührbarkeits-Neurosen oder Ablöse-Rituale sind. Überall lauern mythischmystische Auslegungssätze, von Mutterfixierung bis zum Kastrationstrauma. Viele Fragen werden gestellt, aber bei genauerem Hinsehen sind es gar keine. Denn dieser Autor breitet voreingenommen seine Gewißheiten aus. Illustrierte Fixideen im Gewande Achills.