Eine Annotation von Licita Geppert
Hahn, Nikola:
Die Detektivin
Roman.
Marion von Schröder Verlag, München 1998, 440 S.
Wir schreiben das Jahr 1883. Die Stadt Frankfurt am Main wird von Anarchisten bedroht. Seit der preußischen Annexion Frankfurts und der Reichsgründung herrscht Unruhe unter der Bevölkerung. Die Welt der dreiundzwanzigjährigen Victoria Könitz ist noch heil und in Ordnung, wie es scheint. In Wahrheit wird der intelligenten, unangepaßten Victoria jedoch in der großbürgerlichen Welt ihres Elternhauses, die für Frauen nur Einschränkungen und Verbote, enggeschnürte Mieder und geistige Korsetts bereithält, buchstäblich die Luft zum Atmen genommen. Ihr unabhängiger Geist rebelliert gegen ihre Familie und die Zeitumstände. Mit Gerissenheit schafft sie sich Freiräume, aus der Enge der Verhältnisse auszubrechen. Da geschieht ein Mord. Alle glauben an ein normales Verschwinden, als die junge Emilie, das Dienstmädchen von Victorias Tante Sophia, plötzlich nicht mehr auftaucht. Nur Victoria, die begeistert ist von der noch jungen Kriminalwissenschaft, deren Standardwerke sie auswendig zu zitieren weiß, vermutet ein Verbrechen. Ihr wacher Verstand läßt sie Spuren erkennen, wo scheinbar keine sind; sie glaubt nicht den lahmen Erklärungen der Erwachsenen. Die Polizei ermittelt aus verschiedenen Gründen lustlos. Kommissar Biddling ist bis zur Besessenheit mit Recherchen in einem lange zurückliegenden Mordfall beschäftigt. Für den Königlichen Polizei-Rath Dr. Rumpff dagegen hat die Jagd auf Anarchisten Priorität, zumal der Hausherr, Victorias Onkel, eng mit dem Polizeichef befreundet ist. Mit diesem und Dr. Heinrich Hoffmann, Irrenarzt und Schöpfer des Struwwelpeters, führt er lange Gespräche über die Menschen, die Polizei, über Gott und die Welt. Victoria belauscht die Herren oft dabei und gewinnt daraus viele Einsichten. Aber auch das Studium verbotener Bücher, von Detektivgeschichten bis zu Schriften über polizeiliche Ermittlungen, fördern ihren Scharfsinn.
Das Spannungsfeld, das Nikola Hahn, selbst seit 1984 im hessischen Polizeidienst und gegenwärtig als Kriminaloberkommissarin in Offenbach tätig, aufzubauen versteht, reicht weit über den Konflikt zwischen privaten und polizeilichen Ermittlungen hinaus. Die Autorin malt das Bild einer Gesellschaft im Umbruch: Alte Werte erweisen sich als starr und überholt, Frauen fordern (bescheiden noch) ihre Rechte ein, preußisches Beamtentum reibt sich an hessischer Gemütlichkeit, Pflichtehen stehen Verbindungen aus Liebe gegenüber, das Verhältnis von Ober- und Unterbeamten muß neu definiert werden. Hinter der Fassade der Wohlanständigkeit lauern die nur allzu bekannten moralischen Abgründe. Der widerborstigen, aber dennoch sehr liebenswerten Victoria gelingt es schließlich, im Verein mit dem preußischen Kommissar Richard Biddling, den Fall zu lösen und noch ein paar weitere, seit langem ungelöste Mordfälle dazu.
Mit Vergnügen folgt der Leser der sorgfältig aufgebauten Handlung, deren komplizierte Verläufe Nikola Hahn mit anmutiger Sprache beschreibt. Als Kapitelüberschriften dienen Zitate aus dem Practischen Lehrbuch der Criminal-Polizei von 1860, die das Vorgehen bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit, die damals noch in den Kinderschuhen steckte, erklären und so durch die Geschich te führen. Der Autorin ist die Verbindung dieser vielfältigen gesellschaftlichen und historischen Facetten zu einem komplexen Zeitprisma und spannenden (Kriminal-)Roman glänzend gelungen.